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1995 präsentierte der Tagesspiegel die Schlossplatz-Entwürfe, Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth eröffnete die Ausstellung.

© Tagesspiegel-Archiv

Neue Perspektiven nach dem Mauerfall: Berlin wurde Hauptstadt – und der Tagesspiegel ein anderer

Mit der Hauptstadtwerdung erhoffte sich der Tagesspiegel eine Steigerung der Auflage. Doch der Markt war schwierig und neue Kreativität gefragt.

Der Fall der Mauer hat nicht nur die SED und den Westen, sondern auch den Tagesspiegel überrascht. Das plötzlich schrankenlose Berlin eröffnete allen Zeitungen völlig neue Perspektiven. Sowohl im Springer-Verlag mit der „Morgenpost“, der „B.Z.“ und „Bild“ als auch im Tagesspiegel-Haus in der Potsdamer Straße machte man sich große Hoffnungen auf tausende neuer Leser im Ostteil der Stadt und vielleicht auch weit über Berlin hinaus. Mussten die DDR-Bürgerinnen und Bürger sich nicht geradezu nach Zeitungen aus dem freien Westen sehnen? Würden sie sich nicht in Massen von den Druckerzeugnissen abwenden, der unter dem Diktat der SED und der Blockparteien gestanden hatten?

Beim Tagesspiegel war man besonders optimistisch. Eine neue Rotationsmaschine wurde relativ bald bestellt, die große Stückzahlen in kurzer Zeit drucken konnte – Verlag und Redaktion machten sich, verständlicherweise, Hoffnungen darauf, dass es für die Stimme der Vernunft breiten Raum geben würde.

Dass diese Investitionsentscheidung gut gemeint, aber falsch war, stellte sich leider bald heraus: Die erhofften, großen Auflagenzuwächse stellten sich nicht ein. Stattdessen konnte die Zeitung plötzlich mit einer Fülle von Vierfarbanzeigen von Kaufhäusern und Markenartiklern viel Geld verdienen – alleine, diese Maschine konnte in laufender Produktion solche Anzeigen nicht drucken – aufwändige und teure Vorprodukte mussten erstellt werden, die an der Rendite kratzten…

Bald also wurde der Verlag von der Realität eingeholt, und die war aus rein kaufmännischen Gründen sehr brutal. Es hatte damit begonnen, dass aus dem Ostteil der Stadt die „Berliner Zeitung“, nun mit der breiten Rückendeckung des Mediengiganten Gruner und Jahr, am Montagmorgen von fliegenden Händlern angeboten wurde und am Kiosk zu kaufen war – wo es am Montagmorgen keinen Tagesspiegel gab und keine „Morgenpost“. Die West-Berliner Zeitungen hatten nämlich einen anderen Erscheinungsrhythmus als die Ost-Berliner: In Westen gab es den Tagesspiegel von Dienstag bis Sonntag, aber nicht am Montag. Die (Ost-)„Berliner Zeitung“ erschien montags bis sonnabends, aber nicht am Sonntag.

Der Konkurrenzdruck: sieben statt sechs Ausgaben pro Woche

Die West-Berliner kauften, solange die Mauer stand, am Montag, vor allem wegen des Sports, die Boulevardzeitung „B.Z.“ – und jetzt plötzlich die „Berliner Zeitung“. Das konnte nicht so bleiben, das war dem Verlag des Tagesspiegels so klar wie dem der „Morgenpost“.

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Was also tun? Es musste eine Montagsausgabe her, und das schnell. Der „Morgenpost“ die auch wegen ihres großen Kleinanzeigenteils eine mehr als doppelt so hohe Auflage wie der Tagesspiegel hatte, fiel es relativ leicht, den erhöhten Mehraufwand an Personal und Papier aufzufangen.

Der Springerverlag verhinderte auch, dass eine die Kosten deckende Erhöhung der Abonnementsgebühren durchgesetzt werden konnte. So rutschte der Tagesspiegel schnell in die roten Zahlen – mehr Redakteure, mehr Papierkosten, eine nun in sieben statt in sechs Nächten mit Personal auszustattende Rotationsmaschine, hohe Mehrkosten, denen nicht annähernd entsprechende Einnahmen gegenüberstanden. Das konnte nicht gut gehen.

Der rettende Engel kam wieder aus Stuttgart

Die Verlagsgruppe von Holtzbrinck aus Stuttgart kam als rettender Engel. Zum zweiten Mal erwies sich in einer Notsituation der verlegerische und kaufmännische Sachverstand aus dem Schwäbischen als Nothelfer. Franz Karl Maier, der 1984 verstorbene legendäre Verleger der frühen Jahre, war ebenfalls aus Stuttgart gekommen. Holtzbrinck hatte als Verleger des „Handelsblattes“ und der „Wirtschaftswoche“ sowie einer Reihe von Qualitätszeitungen im Regionalbereich einen guten Namen in der Branche.

Und Dieter von Holtzbrinck wusste, was er tat: Als einer der Verlagsbosse von Gruner und Jahr ihm, scheinbar großzügig, anbot, bei der „Berliner Zeitung“ mit einzusteigen und dafür den Tagesspiegel fallen zu lassen, winkte Holtzbrinck ab. Er hatte längst eine andere Vision: Warum sollte nicht langfristig der Tagesspiegel die wichtigste und auflagenstärkste Zeitung Berlins werden, die in ganz Deutschland gehört würde?

Am 28. Juni 1995 signierten Christo und Jeanne-Claude die Tagesspiegel-Doppelseite die kolorierte Zeichnung „Wrapped Reichstag“.
Am 28. Juni 1995 signierten Christo und Jeanne-Claude die Tagesspiegel-Doppelseite die kolorierte Zeichnung „Wrapped Reichstag“.

© Thilo Rückeis

Wie stark der Tagesspiegel von den Berlinern beachtet wurde, zeigte sich im Sommer 1995 bei einer spektakulären Aktion: Christo und Jeanne-Claude verhüllten den Reichstag, eine künstlerische Initiative, die weltweit Aufmerksamkeit erregte. Der Tagesspiegel druckte auf einer Doppelseite die kolorierte Zeichnung Christos mit dem Titel „Wrapped Reichstag“ und hatte mit dem Künstlerpaar vereinbart, dass beide diese Doppelseite am Morgen des 28. Juni 1995 vor dem Westeingang des verhüllten Gebäudes signieren würden.

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Der Start der Signierstunde – mehr als 60 Minuten waren nicht vorgesehen – wurde auf fünf Uhr morgens festgelegt, weil die vielen tausende Besucherinnen und Besucher des verhüllten Kunstobjektes nicht behindert werden sollten. Was dann geschah, sprengte alle Vorstellungen: 15.000 Leserinnen und Leser waren gekommen, um sich den Druck signieren zu lassen – und Christo und Jeanne-Claude, überwältigt von der Begeisterung der Berliner, signierten sechs Stunden lang die Zeitungsseiten, bis auch der letzte der 15.000 Wartenden beglückt nach Hause gehen konnte.

Die Schlossplatz-Schau wurde auch im Bonner Bundestag gezeigt

Und noch eine künstlerische Aktion fesselte nicht nur die Aufmerksamkeit der Leserinnen und Leser, sondern auch die der bundesweiten Öffentlichkeit und die des politischen Bonn. Die Frage nämlich, was mit dem Berliner Schlossplatz geschehen solle, beschäftigte nicht nur die Politik der Stadt, sondern auch den Bundestag.

Sollte das unter Walter Ulbricht gesprengte Stadtschloss wieder erstehen? Sollte der Palast der Republik abgerissen werden oder als städtebauliche Dominante aus der Zeit der DDR erhalten bleiben? 1996 inszenierte der Tagesspiegel deshalb einen städtebaulichen Wettbewerb um die Frage, wie Berlins Mitte künftig aussehen sollte. Die renommiertesten Architekturbüros beteiligten sich daran, Hans Kolhoff, Axel Schultes, Steffen Lehmann, Meinhard von Gerkan und Normann Forster stellten ihre Visionen genauso vor wie eine junge Arbeitsgruppe von Stadtplanern. In Berlin wurden die Exponate das erste Mal im – inzwischen abgerissenen – Gebäude der Berliner Grundkreditbank an der Budapester Straße gezeigt.

Im April 1997 war die Ausstellung dann in der Herzkammer der bundesdeutschen Demokratie, der Lobby des Deutschen Bundestags in Bonn, zu sehen. Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth, unter deren Patronat schon die Reichstagsverhüllung stattgefunden hatte, erlaubte die Präsentation. Bei der Eröffnung sprach sie genauso wie der damalige Bundesbauminister Klaus Töpfer. Im Verlag Argon erschien dazu ein Buch unter dem Titel „Der Berliner Schloßplatz – Visionen zur Gestaltung der Berliner Mitte“. 23 Jahre danach kann man heute in der Berliner Mitte sehen, was aus dem Schlossplatz und den Visionen von einst geworden ist.

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