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Bürgerrechtlerin Bärbel Bohley (2.v.li., GDR/Neues Forum) während der Besetzung der Stasi-Zentrale in Berlin, 1990.

© imago/Werner Schulze

Neue Erkenntnisse der Forschung: Die unbekannte Auflösung der Stasi in Berlin

Vor 30 Jahren starteten die Stasi-Besetzungen in der DDR. In Berlin agierten die Revolutionäre vorsichtiger – viele Akten wurden vernichtet. Ein Gastbeitrag.

Wieder passierte etwas Ungeheuerliches in den Tagen der friedlichen Revolution in der DDR vor 30 Jahren: In den Tagen vom 4. bis 6. Dezember 1989 verschafften sich Bürgerinnen und Bürger Zutritt zu allen Bezirksverwaltungen und den meisten Kreisdienststellen des „Ministeriums für Staatssicherheit der DDR“, der berüchtigten „Stasi“.

Aber in Berlin passierte nichts? Bis heute heißt es, dass hier das Volk erst eineinhalb Monate später, am 15. Januar 1990, seinen Unmut gegen das ehemalige Mielke-Ministerium richtete: im Sturm auf die Zentrale in Lichtenberg.

Doch dies ist nicht ganz richtig. Auch in Berlin gab es neben dem Ministerium eine Bezirksverwaltung mit 11 Kreisdienststellen, auch diese wurden ab Dezember aufgelöst, mit einst immerhin 2500 Mitarbeitern an der Straße der Befreiung, heute wieder Alt-Friedrichsfelde.

Allerdings waren die Abläufe in Berlin vollkommen andere als etwa in Leipzig, wo, unter dem Druck einer Demo, Bürger am 4. Dezember in die „Runde Ecke“, die dortige Stasi-Bezirksverwaltung eindrangen und mit Bürgerkomitees den Auflösungsprozess entschieden vorantrieben.

In Berlin war das Erstaunliche, dass die Auflösung der Stasi nicht von den Oppositionsgruppen ausging, erinnert sich Michael Kummer, einer der damaligen Aktiven. Am 17. Dezember lud der Ost-Berliner Polizeipräsident und ein Regierungsbeauftragter zur Gründung eines „Kontrollausschusses“ ein. Im Polizeipräsidium dominierten die Staatsvertreter. Geladen waren neben Mitgliedern politischer und staatstreuer Gruppen auch oppositionelle Gruppierungen.

Stasi wollte brisante Akten wegsperren

Offiziell ging es um die „Auflösung des Bezirksamtes“, interne Papiere offenbaren aber die wahren Motive. Die Staatsseite wollte die Zustimmung der Bürgervertreter, um brisante Akten wegzusperren und mit einem Teil der Stasi-Belegschaft und der Akten als so genannter Verfassungsschutz der DDR weitermachen zu können.

Dass die Staatsseite gerade in der Hauptstadt der DDR mit dieser auch andernorts verfolgten Strategie zunächst relativ erfolgreich war, lag daran, dass sich die Opposition hier darauf konzentrierte, den Erfolg der friedlichen Revolution durch einen Machtkompromiss mit den Vertretern des alten SED-Gefüges am zentralen Runden Tisch abzusichern. An einer Eskalation bestand kein Interesse.

SED-Vertreter Gregor Gysi wurde kontaktiert

Bisher wenig bekannt ist: Vertreter der wichtigsten Oppositionsgruppe "Neues Forum" um Bärbel Bohley kontaktierten noch in der Nacht vom 3. zum 4. Dezember 1989 SED-Vertreter wie Gregor Gysi, den ehemaligen Spionagechef Markus Wolf und Regierungschef Hans Modrow, die damals als reformorientiert galten. Die Bürgerrechtler befürchteten, dass angesichts der aufgeheizten Stimmung insbesondere die Leipziger Montagsdemo am 4. Dezember abends in einen wilden Sturm auf die „Runde Ecke“ der Stasi ausarten könnte.

Als Gegenstrategie, so die Vereinbarung, sollte eine Bürgerdelegation, dokumentiert durch die Medien, die Bezirksverwaltung besuchen, um die Menge vor Demobeginn zu beschwichtigen.

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Nach den ersten Besetzungen wurde dieses Präventions-Szenario am 6. und 7. Dezember auch am Berliner Stasi-Ministerium erprobt. Bürgervertreter, darunter der renommierte Wolfgang Ullmann von „Demokratie Jetzt“, besuchten die Zentrale. Die Jugendfernsehsendung „Elf 99“ und die Nachrichtensendung „Aktuelle Kamera“ berichteten. Tage danach wiederholte sich das Ritual, diesmal ohne Presse, mit Mitgliedern des Neuen Forums.

Waffenarsenal am Tierpark

Laut Stasi-Protokoll wies Bürgerrechtler Jens Reich zwar „Kumpanei“ mit der alten DDR-Geheimpolizei zurück. Es habe aber beiderseits „Besorgnis“ über die zugespitzte Lage und „Einverständnis über Sicherheitspartnerschaft“ gegeben. Die „Herstellung fester Informationsbeziehungen“ und eine „Übersicht über Kontaktpartner“ des Neuen Forum in den Bezirken seien demnach besprochen worden.

Die Stasi-Führung konnte sich also auf eine gewisse Akzeptanz bei Berliner Bürgerrechtsvertretern stützen, als der „Kontrollausschuss“ für die Berliner Bezirksverwaltung gegründet wurde. Unter Aufsicht eines Militärstaatsanwaltes wurde auf dem Gelände am Tierpark das beträchtliche Waffenarsenal gesichert, die Akten in einem Bunker verschlossen, allerdings auch 65 Tonnen davon in einer Papiermühle vernichtet.

Laut staatlicher Protokollierung war man sich mit den Bürgervertretern einig, „Maßnahmen zur Sicherung der sofortigen Arbeitsfähigkeit der Auslandaufklärung und Spionageabwehr […] einzuleiten und Bedingungen […] für die Bekämpfung des Terrorismus und Neonazismus“ zu gewährleisten. Zeitzeuge Michael Kummer räumt rückblickend ein, ähnliches in einem Interview geäußert zu haben. So konnten also alte Stasi-Strukturen mit neuen Etiketten erst einmal weitermachen, gedeckt von der an der Spitze personell erneuerten SED. Der Stasi blieben so auch noch einige Wochen, um viele Akten auch in der Stasi-Zentrale in Lichtenberg zu vernichten oder, als die Schredder heißliefen, zumindest per Hand zu zerreißen.

Generalstreik im Roten Rathaus angedroht

Dass die Berliner Bezirksverwaltung letztlich ersatzlos aufgelöst wurde, war Folge der DDR-weiten Proteste, vor denen die Regierung Modrow zurückweichen musste. Auch in Berlin demonstrierten viele Menschen gegen die Stasi: Es gab Aktionen der Taxifahrer oder der Milchfahrer. Der Berliner Runde Tisch im Roten Rathaus drohte mit Generalstreik.

[Dieser Text ist Teil des Dokumentations-Projekts „Stasibesetzung“. Auf der Website findet sich auch eine Langfassung dieses Beitrags.]

In Berlin entstand ein heute kaum zu entwirrendes Netz an Bürgeraktivitäten bis auf Stadtbezirksebene, die in einer Art Schwarmintelligenz die Auflösung vorzutreiben versuchten. Alarmistisch beklagte jedoch die AG „Sicherheit“ des Berliner Runden Tisches, dass Werte des MfS verschoben würden. Dort, wo rund die Hälfte des Geheimpolizeimaterials angesiedelt war, waren die Bürger zunächst strategisch unterlegen.

Fast selbstanklagend meint Michel Kummer, die Stasi hätte sich in Berlin selbst aufgelöst, die Revolutionäre nur eine „Dummyfunktion“ gehabt. Umso erstaunlicher ist, dass es dennoch gelang, den Überwachungsmoloch ohne Exzesse in wenigen Monaten ersatzlos abzuschaffen und – als Beigabe – auch noch fast zweieinhalb Kilometer Akten für die Nachwelt zu sichern.

Unser Autor Christian Booß ist Experte der Stasi-Forschung. Er war lange in der Stasi-Unterlagen-Behörde tätig und ist heute im Bürgerkomitee "15. Januar" in der ehemaligen Stasi-Zentrale in Lichtenberg engagiert.

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