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Frühwarnsystem. Die Kohlmeise warnt ihre Gefährten vor Eindringlingen, wenn sich jemand nähert.

© Holger Hollemann/dpa

Naturschutzbund zählt Wintervögel: Der Mann, der die Vögel liebt

Stieglitz, Kleiber, Kohlmeise: Walter Schanze kann fast alle Vögel Berlins an ihrem Gesang erkennen. Seit 30 Jahren engagiert er sich für den Nabu.

Einmal flog ihm ein Stieglitz an die Scheibe. Im Betrieb war das, wo Walter Schanze damals noch als Werkzeugbauer arbeitete. Der Stieglitz ist ein schöner Vogel: Er hat einen roten Kopf und einen gelben Schweif auf dem Flügel. Manche Leute, sagt Walter Schanze, „halten die sich, weil sie so schön sind“.

Der Stieglitz lag auf dem Boden, ganz benommen von dem Zusammenprall. Aber er lebte. Also griff ihn Schanze sich mit seinen großen, festen Werkzeugbauerhänden. Er legte ihn sanft in eine Pappkiste, Deckel drauf, Löcher rein und nahm ihn mit nach Hause. Zu Hause fütterte er ihn, bis der Stieglitz wieder fit war. Dann nahm er die Kiste, fuhr raus zum Spandauer Hahneberg. Dort fand er eine Gruppe anderer Stieglitze. Er setzte den Pappkarton ab, hob den Deckel hoch und ließ ihn frei.

Heute ist Schanze 73. Der Spandauer trägt eine selbsttönende Brille, sein Schnauzbart ist so weiß wie seine Haare, den Reißverschluss seines Anoraks hat er an diesem Freitag bis ganz oben zugezogen. Die linke Hand steckt in der Anoraktasche, mit der rechten weist er den Weg. Er stapft über den Friedhof in den Kisseln, zeigt nach rechts, doch dann dreht er den Kopf nach links: „Da!“, ruft er, „ein Kleiber.“

Der Nabu rief zum Vogelzählen auf

Schanze hat ihn gehört, bevor er ihn sah. „Zit! Zit! Zit!“, ruft der Kleiber. Er hat einen langen, schmalen Schnabel, sein Rücken ist himmelblau, als trage er einen Umhang. Kopfüber klettert er den Baum hinab. „Das sind die einzigen Vögel, die das können“, erklärt Schanze. Und erzählt, wie die Männchen ihre Jungen und das Weibchen im Kugelnest quasi einmauern: Sie verkleinern das Loch nach dem Schlüpfen, damit die Jungen geschützt sind.

Der Kleiber flattert in eine Hecke, Schanze geht weiter über den Friedhof. Am Sonntag hat er hier Vogelinteressierte entlanggeführt, mit dem Fernglas Eichelhäher gesichtet und Wintergoldhähnchen. Denn der Naturschutzbund Deutschland (Nabu) hatte für dieses Wochenende alle Berliner dazu aufgerufen, Wintervögel zu zählen und die Zahlen zu melden. So will der Nabu herausfinden, wie sich die Vogelarten Berlins entwickeln und Bewusstsein schaffen für die Berliner Vogelwelt.

Walter Schanze kann fast alle Vögel Berlins an ihrem Gesang erkennen. Sein ganzes Leben lang begleiten sie ihn schon.
Walter Schanze kann fast alle Vögel Berlins an ihrem Gesang erkennen. Sein ganzes Leben lang begleiten sie ihn schon.

© Hannes Schrader

Schanze sagt, er könne fast alle Vögel in Berlin an der Stimme erkennen. Zu Hause hat er CDs mit dem Gesang der Vögel. So wie sich andere AC/DC auf die Ohren ballern oder Mozart hören, hört Schanze die Mönchsgrasmücke singen. Weil er die Vögel liebt, und um zu üben. So erkennt er, dass die Kohlmeise in der Hecke des Friedhofs warnt: „Prrrrprrrprrr!“ – „Die hat uns gesehen und sagt den anderen: ‚Passt auf, hier ist wer!‘“

Früher stand er morgens am Wochenende um vier Uhr auf und ging in den Wald, stundenlang, um die Vögel zu sehen und singen zu hören. Auf dem Rückweg sammelte er den Müll auf. „Meine Frau wusste immer schon, wenn ich komme, mit zwei vollen Plastiktüten an den Händen.“ Über die Liebe zur Natur wurde er zum Umweltschützer.

„Das Wandern liegt mir im Blut“

Seit über 30 Jahren ist er Mitglied beim Nabu. „Aber für Tiere interessiere ich mich schon, seit ich so groß bin“, sagt er und hält seine Hand auf Hüfthöhe. Als Kind habe er den Hasen im Frühling zugeschaut, wie sie sich gegenseitig über die Felder jagten. „Die haben mich umgerannt, so wild waren die unterwegs.“ Deshalb legte er sich ins Gras und schaute so zu.

Wann das mit den Vögeln angefangen hat, weiß er nicht mehr. Sie haben ihn sein ganzes Leben lang begleitet. Als Jugendlicher, erzählt er, nahm er junge Krähen und Elstern aus den Nestern ihrer Eltern und zog sie groß. Seine Mutter fragte die Krähen im Käfig immer: „Wo ist denn der Walter?“ – da hätten sie fast seinen Namen gekräht.

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Schanze ist in der DDR geboren. Er wollte gern Jäger werden, aber in der Schule sagten sie ihnen, das Land brauche junge Menschen in der Industrie, also ging er in die Industrie. Werkzeugbauer. Im ersten Jahr lernte er, wie man Blinker und Anlasser baut. Seine Ausbilder sagten ihm, dass er gründlich arbeiten müsse, penibel, damit die Teile am Ende alle zusammenpassten. Im zweiten Jahr kam er aufs Werk und sie hatten so wenig Metall zum Autobauen, dass sie mit Schweißbrennern auf alte Militäranlagen gehen mussten und Panzerketten zerlegten. Da, sagt er, habe er sich entschieden zu fliehen. „Weil die Theorie und die Praxis so weit auseinanderlagen.“

Ein Eichelhäher schluckt in einem Garten in eine Erdnuss.
Ein Eichelhäher schluckt in einem Garten in eine Erdnuss.

© Georg Wendt/dpa

Und wegen der Freiheit. Sein Vater sei Zimmermann gewesen. Der war auf die Walz gegangen. Seine Mutter war mit 14 von zu Hause ausgezogen, um zu arbeiten. „Das Wandern liegt mir im Blut.“ Also ging Schanze in der Nacht vom 28. März 1968 in Richtung Grenze. Man muss ihn nicht nach dem Datum fragen, wenn er davon erzählt. Zwei Grenzbeamte sah er in der Böschung liegen, sie rauchten. Schanze grüßte sie noch.

Die Grenze begann mit einem Zaun, sagt er und zeigt auf den grünen Maschendraht am Wegesrand. „Acht Meter weiter“, sagt er und zeigt auf den gegenüberliegenden Zaun, „war die andere Seite.“ Dazwischen: Signaldraht, Stolperdraht, Stockminen. Er zog sich die Schuhe aus. Dann hob er vorsichtig den Stacheldraht zwischen zwei Pfosten hoch und schlüpfte, mit den Füßen zuerst, unten durch. Er tastete sich vor, um den Stolperdraht zu spüren, bevor er fallen konnte. „Schritt für Schritt“, sagt Schanze und setzt vorsichtig auf dem Weg des Friedhofs einen Fuß vor den anderen.

Niemand erwischte ihn. Auf der anderen Seite angekommen lief er einige Stunden, bis er ein Ortsschild sah. „Regierungsbezirk Kassel“ stand drauf. Geschafft. Er war gerade 21 Jahre alt.

Wenn er ein Vogel wäre, wäre er am liebsten ein Steinadler, sagt Schanze. „Die sind wehrhaft und durchsetzungsfähig“, sagt er und ballt die rechte Hand zur Faust. Ein Jahr nach seiner Flucht kam Schanze nach West-Berlin, um die Freiheit zu erleben. Er flog.

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