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Berlin: Nada Vrgoc (Geb. 1958)

„Wenn ein Gast hereinkommt, ist es wie ein Lottogewinn“

Im wohlhabenden Nikolassee, zwischen Matterhornstraße und Spanischer Allee, wenige Schritte entfernt nur von der schmalen eiszeitlichen Niederung, an deren flachen Hängen sich von Eichen und Rotbuchen umstandene Villen erheben, liegt das „Wirtshaus an der Rehwiese“, in welchem die Gäste, wenn sie den Vorraum durchquert und ihre Köpfe nach rechts gewandt haben, auf eine Fotografie blicken, das Gesicht einer Frau, jung und leuchtend. Über die rechte obere Ecke der Fotografie spannt sich ein schwarzes Band.

Lange Zeit wussten die Gäste nichts von Nadas Krankheit. Wenn sie das Restaurant betraten, kam sie ihnen entgegen, lachte, lud sie ein, sich zu setzen. „Wie geht es dir, Nada?“, fragten die Gäste. „Gut“, antwortete sie, „aber wie geht es dir?“

Stammgäste schauten bisweilen erst um elf Uhr am Abend vorbei, kurz vor Ladenschluss, blieben bis drei Uhr am Morgen und sprachen über ihre privaten Sorgen im Speziellen, über das Leben im Allgemeinen. Nada hörte zu, rauchte eine Zigarette, trank eine kleine Weißweinschorle. Schon als ihr das „Wirtshaus an der Rehwiese“ noch nicht gehörte, und sie als Kellnerin dort arbeitete, besuchten viele das Lokal allein ihretwegen. Gleich, wie es ihr ging, sie strahlte.

„Mama, wie kannst du nur immerzu lächeln?“, fragte ihr jüngerer Sohn Ivan. „Jedesmal, wenn ein Gast hereinkommt“, sagte Nada, „ist es wie ein Lottogewinn, egal, ob er nur einen Kaffee oder ein Wasser bestellt.“

Der Weg, den Nada nahm, war kein einfacher, hatte nichts mit dem Leben in den Villen am Nikolassee zu tun. Mit 19 ging sie fort aus Kroatien, zusammen mit ihrem Mann, wollte etwas Neues probieren in West-Berlin, fühlte sich sofort wohl hier, auch wenn der Gegensatz zwischen ihrem kroatischen Dorf und der großen, aufregenden Stadt beträchtlich war. Zu den offenen, modernen Frauen gehörte sie, zu jenen, die die Dinge selbst in die Hand nehmen. Köchin hatte sie gelernt, arbeitete zunächst in einem Restaurant am Ku’damm, kaufte sich Bücher, um die deutsche Sprache zu lernen, bekam zwei Söhne und bemerkte nach einigen Jahren, dass es an der Zeit war, die Arbeitsstelle zu wechseln. Der Kindergarten, in den ihre Söhne gingen, suchte eine Köchin. Nada liebte Kinder, und die Kinder liebten Nada. Sie malten Bilder für sie und bastelten und liefen zu ihr in die Küche. „Was soll ich heute für euch kochen?“, fragte sie, und die Kinder riefen ihr ihre Wünsche zu.

1993 eröffnete sie mit ihrem Mann den „Schleusengarten“ in Stahnsdorf. Nach einem halben Jahr hinter dem Herd entschloss sie sich, nach vorn zu kommen, zu den Gästen. Augenblicklich glückte der Wechsel, die Menschen fühlten sich angezogen von Nada, erkundigten sich sofort nach ihr, wenn sie mal eine Stunde außer Haus war.

Doch dann begann alles von Neuem. Ihre Ehe zerbrach und mit ihr die Selbstständigkeit. Aber Nada wich nicht zurück, machte weiter, nie sollte es ihren Söhnen an etwas fehlen, nie fehlte es ihren Söhnen an etwas. Sie arbeitete manchmal in zwei Restaurants gleichzeitig, bis sie die Stelle im „Wirtshaus an der Rehwiese“ bekam. Im Jahr 2002 übernahm sie das Lokal. Niemandem sonst hätte der Besitzer es verkauft, so sagte er.

Behutsam verwandelte Nada das Restaurant, ersetzte ein Gericht durch ein anderes, verfeinerte hier eine Sauce, räumte dort eine folkloristische Figur oder einen alten Krug vom Regal, alles ganz allmählich, denn ein Stammpublikum stößt man nicht durch abrupte Änderungen vor den Kopf. Es ging gut.

Sie entschied, eine Terrasse anzulegen, fragte sich jedoch sogleich, wo all die Menschen, die nun im Sommer unter den bordeauxroten Schirmen saßen, im Winter unterkommen sollten. Podeste im Restaurant wurden heraus- und Mauern eingerissen, die Wände ließ Nada in einem warmen Rot anstreichen. Zwei Jahre dauerten die Umbauarbeiten, begannen oft früh am Morgen, bevor die ersten Gäste eintrafen, wurden spät am Abend fortgesetzt, wenn die letzten Gäste zur Tür hinaustraten. Hell und luftig erschienen die Räume jetzt, Nada, deren Name im Kroatischen „Hoffnung“ bedeutet, war glücklich.

Und dann tauchten die Schmerzen auf. Darmkrebs, keinerlei Hoffnung, sagten zwei junge Ärzte ungerührt mitten in ihr leuchtendes Gesicht. Nada begann mit den Chemotherapien, wurde immer zierlicher, die langen blonden Haare aber blieben ihr. Fünf, sechs Stunden verharrte sie während der Behandlungen im Krankenhaus, und stand am folgenden Tag wieder im Restaurant. Es ging ihr bald besser – ein trügerisches Gefühl. Sie wusste das, fuhr in ihr kroatisches Dorf und ließ ein Grab für sich bauen. Nach ihrer Rückkehr nach Berlin ging es nicht weiter. Sie starb am 25. August.

Fünfhundert Menschen kamen zur Trauerfeier in die Kapelle unweit der Rehwiese. Fünfhundert Menschen standen am Grab in Nadas Dorf in Kroatien.

Ihr Sohn Ivan führt das Restaurant weiter, so wie sie es getan hätte. Tatjana Wulfert

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