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Nachruf: Solveigh Hammermeister (Geb. 1967)

Sie raucht, obwohl sie schwer lungenkrank ist. Sie spielt mit ihrem Patensohn, auch wenn er Grippe hat und sie sich nicht anstecken soll. Solveigh Hammermeister hatte Mukoviszidose und unbändige Lebensfreude.

Von Julia Prosinger

Es ist 20 Uhr, Solveigh lässt die Pasta im Restaurant stehen, ruft Juri an. Singt am Telefon: Der Mond ist aufgegangen. 20 Uhr, nächster Tag, im Theater, Solveigh verlässt den Zuschauersaal, ruft Juri an. Singt im Regen: Die Blümelein, sie schlafen.

Nur wenn Solveigh, die Patentante, angerufen hat, kann Juri, zweieinhalb Jahre, schlafen. 20 Uhr im Urlaub, 20 Uhr, wenn es ihr schlecht geht.

Solveigh geht es oft schlecht. Solveigh hat Mukoviszidose. „Zäher Schleim“ heißt das Wort, eine Erbkrankheit, unheilbar. Er verstopft die Lunge, Bakterien vermehren sich darauf. Nach und nach gehen Bauchspeicheldrüse, Leber, Niere, Galle kaputt.

Mukoviszidosekranke werden nicht alt. Solveigh ist 46 geworden. Kurz nach ihrem Tod sitzen die Freunde in ihrer Wohnung. Solveigh hat sich einen Nachruf im Tagesspiegel gewünscht. Es war immer schwer, sagen die Freunde, Solveigh etwas abzuschlagen.

Altes Knittergesicht, Schweinsbeere, Specknacken nannte sie die Freunde, wenn ihr danach war. Mit dem einen geht sie seine Szenen als Schauspieler durch, den anderen holt sie aus depressiven Tälern. Nachts am Telefon, obwohl sie ihren Schlaf braucht und morgens zur Atemtherapie muss. Da lernt sie, den Schleim abzuhusten.

Solveigh wird 1967 als älteste Tochter einer Krankenschwester in Bremen geboren, der Vater arbeitet Schicht im Hafen. Als sie zwei ist, diagnostizieren Ärzte die Krankheit. Solveigh liegt immer wieder im Krankenhaus, von anderen Kindern isoliert, die Eltern dürfen sie oft nicht besuchen, der Vater brüllt die Ärzte an. Es geht um die Freiheit seiner Tochter. Statt in der Schule zu sein, liegt sie oft im Bett mit Infekten. Als Krampfadern in der Speiseröhre verödet werden sollen, springt sie vom OP-Tisch. Die Ärzte jagen ihr hinterher. Ihr Leben lang wird Solveigh Hammermeister Patientenrechte einfordern, Besuchszeiten, anständiges Essen.

Als Kind muss sie über ihren Appetit hinaus essen, sie rebelliert dagegen. Mukoviszidosepatienten brauchen viel mehr Kalorien als Gesunde. Auch, weil ihnen das Atmen so viel schwerer fällt.

Als sie zehn ist, sagen ihr die Ärzte, dass sie keine 14 werden wird. Wenn der Vater morgens von der Schicht kommt, dreht sie „Ton Steine Scherben“ auf, streitet mit ihm. Sie will Schauspielerin werden, aber sie ist zu oft krank, um zu proben. Kurz vor dem Abitur bricht sie die Schule ab, verbrennt das letzte Zeugnis am Mühlenteich, zieht von zu Hause aus und lebt mit Freunden in einer alten Villa.

In den Achtzigern kommt Solveigh nach Berlin. „Ich habe Magenkrämpfe, ich muss in deine Badewanne“, sagt sie zu einem der Freunde, obwohl sie ihn erst am Vortag kennengelernt hat.

Solveigh und der Widerspruch. Die Freunde lachen. Sie trifft Matthias, obwohl sie eigentlich mit Güler und Sören verabredet ist, obwohl sie eigentlich mit Sylvi kickern wollte, obwohl sie eigentlich mit Roberto seine Dialoge durchgehen wollte. Manchmal trifft sie auch fremde Leute, liest Hadernde, Verzagte von der Straße auf, der Kassiererin im Supermarkt hört sie eine Lebensgeschichte lang zu, obwohl sie selbst viel länger klagen könnte.

1994 bekommt Solveigh eine neue Leber, es ist die erste Lebertransplantation einer Mukoviszidose-Patientin in Deutschland. Ohne das neue Organ würde ihr Körper sich selbst vergiften.

Vor der Operation stellt sie sich ein Team aus ihren Freunden zusammen, damit sie nie allein ist. 24 Stunden Besuch auf der Intensivstation, das erlauben die Ärzte normalerweise nicht. Wenn Solveigh etwas will, einen mit wachen Augen anblickt – wer kann da Nein sagen?

Nach der Operation spricht sie im Fernsehen. Sie sagt, dass niemand einen Menschen moralisch unter Druck setzen darf, ein Organ zu spenden. Sie sagt das, obwohl sie selbst auf die Spende angewiesen war. Solveigh und der Widerspruch. Sie bekommt Körbe voll Fanpost, Heiratsanträge. Man vergisst sie nicht leicht. Auf den Kanaren trifft sie einen, der sich erinnert, wie er ihr vor vier Jahren in Marzahn eine Jacke verkauft hat.

Mit den Jahren wird die Luft immer knapper

Mit der neuen Leber kann sie erstmals planen, über einen Beruf nachdenken. 1996 lernt sie Jens kennen, fährt mit ihm nach Thailand, im Gepäck zwei Keksdosen voll Tabletten. Pillen, die die Bronchien erweitern, Verdauungsenzyme, Antibiotika, Immunsuppressiva, damit der Körper die Leber nicht abstößt.

Kannst du das aushalten?, fragt Solveigh Jens. Die Krankheit, ihr Chaos?

Zehn Jahre halten sie einander aus. Reisen viel, sie will wild campen, er lieber ins Hotel. Solveigh macht eine Ausbildung zur Ergotherapeutin. Praktizieren kann sie nur ein paar Jahre.

Sie ist Fußball-Fan, obwohl sie Deutschland-Fahnen nicht mag. Sie fährt gern schnell Auto, obwohl sie auf sich aufpassen soll. Polizisten überzeugt sie, ihr den Strafzettel doch nicht zu geben.

Wenn wieder einer auf ihrem Behindertenparkplatz vor der Kreuzberger Haustür parkt, klebt sie ihm lieber einen Zettel an die Windschutzscheibe, als die Polizei zu rufen.

Mit den Jahren wird die Luft immer knapper. Ihre Lunge, sagt sie, fühlt sich an, als jogge sie immerzu.

Sie mag Menschen, auch schwierige. Den mürrischen Mann, der ihr die Sauerstofftanks auffüllt, die sie neuerdings braucht, stellt sie sich als kleinen sommersprossigen Jungen vor, dann mag sie auch ihn. Das ruppige Ehepaar, das die Imbissbude am Plötzensee betreibt, bringt nur sie zum Lächeln. Du sprichst von ihr wie von einer Heiligen, sagt die Mutter eines ihrer Freunde. Eine Heilige, das war sie wirklich nicht.

Juri, blonde Locken, hat aufmerksam zugehört, als die Freunde erzählen. Jetzt läuft er um den Tisch in Solveighs Wohnung und bringt einen Weidenkorb. Darin liegt ein grauer Klotz. Das ist das Sauerstoffgerät seiner Tante Solveigh. Er trug es ihr hinterher, als er gerade laufen konnte. Seit drei Jahren hing Solveigh an dem Gerät.

Trotzdem raucht sie eine Zigarette nach der anderen. Auf der Straße bleiben die Leute stehen, wenn die zierliche blonde Frau, den Sauerstofftank auf dem Rücken, die Füße in Latschen mit Sonnenblumenmuster, die Kippe zwischen den Fingern, an ihnen vorbeiläuft. Rauchen, das war Freiheit. Die Sucht ein Problem, das auch Gesunde haben.

Blicke machen ihr nichts aus. Wenn sie wieder Bauchkrämpfe hat, bindet sie sich mit dem Schal eine Wärmflasche um den Bauch. Auf Festivals kühlt sie ihre Medikamente zwischen Wodkaflaschen an der Bar. Im Bus setzt sie sich Spritzen gegen ihren Diabetes. Den hat sie nun auch noch bekommen. Man muss da regelmäßig den Insulinwert kontrollieren, diszipliniert essen. Nichts für Solveigh. Im Nirgendwo braucht sie plötzlich eine Cola oder rasch ein Milky Way, weil sie unterzuckert ist. Einmal hat sie einen epileptischen Anfall.

Als die Beziehung zu Jens nach zehn Jahren zerbricht, bleibt er einer ihrer Freunde. Als Jens eine neue Frau kennenlernt, wird auch sie eine Freundin. Als Juri zur Welt kommt, wird Solveigh Patentante. Und weiß, dass sie nicht lange für ihn da sein wird.

Sie spielt mit Juri, obwohl er Grippe hat und sie sich nicht anstecken darf.

Nach der Kneipe fährt sie alle heim, obwohl sie ihre Kraft braucht. Im Spätkauf redet sie mit dem Besitzer, bis es plötzlich zwei Uhr nachts ist.

2010 stellen die Ärzte eine neue Diagnose: Darmkrebs. Solveigh überlebt die Operation. Die Freunde bauen das Auto um, damit der Sauerstofftank reinpasst. Sie kann jetzt nicht mehr arbeiten.

Sie wird immer schwächer. Man müsste die Nieren transplantieren. Eigentlich auch die Lunge. Der Krebs könnte wiederkommen. Die Freunde denken, sie schafft es noch einmal. Sie selbst lacht: Solveighs Abgang, die Zehnte.

Dann entscheidet sie sich zu sterben. Keine weiteren Operationen. Obwohl sie dann nicht dabei sein wird, wenn Juri eingeschult wird. Neujahr 2013 verbringt er mit ihr auf der Station, sie stehen am Fenster, vierter Stock im Virchow-Klinikum und schauen auf das Berliner Feuerwerk. Wenn Solveigh schwach ist, legt sich Juri neben sie, ganz behutsam.

Die Freunde campieren im Krankenhaus. Als die anderen Organe schon versagen, schlägt das Herz noch weiter, 24 Stunden lang. Typisch Solveigh, sagen die Freunde. Es stirbt sich nicht so leicht, hat sie gesagt.

Und gewünscht hat sie sich, dass die Freunde ihren Sarg bemalen. Jeder von ihnen gestaltet einen Fleck. Juri drückt seine Hand in Farbe und dann auf das glatte Kiefernholz. Tante Solveigh, sagt Juri, fährt jetzt in einem Engelauto. Julia Prosinger

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