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Zhou Chun (1926-2019)

© privat

Nachruf auf Zhou Chun (Geb. 1926): Bloß kein Selbstmitleid!

Er war Maos Dolmetscher, er fiel in Ungnade. Gefängnis, Zwangsarbeit, Verbannung. Dann wurde er Professor. In Berlin verliebte er sich, da war er 65.

Hätte er nur die Klappe gehalten, sein Leben wäre ein anderes gewesen. „Sei doch einmal ruhig“, hatte seine Mutter immer zu ihm gesagt, als er noch ein Kind war. Er schrieb dazu: „Manchmal kann ich mich selber nicht verstehen. Meine Naivität und meine Leichtgläubigkeit haben mich nicht nur einmal zu Schaden kommen lassen. Sogar ein Kind versteht, das Feuer zu meiden, nachdem es ihm die Finger verbrannt hat.“ Weil er seine Klappe nicht halten konnte, sah er seine Mutter, seinen Vater und seine Geschwister für 22 Jahre nicht. Dass seine große Liebe ihn vorher verlassen hatte, dass sie keine Kinder zusammen hatten, war ein Glück, so sagte er sich, als er eingesperrt war. So musste er nur alleine überleben. Und das war schwer genug.

Zhou Chun, so hieß er. Chun heißt „die Reinheit“. Zhou war sein Familienname, wird wie „Jo“ ausgesprochen, wie er Nicht-Chinesen oft erklärte. Laut chinesischem Horoskop ist er als Tiger geboren.

1957 fiel er in Ungnade, dabei hatte er es weit gebracht für einen Intellektuellen. Für einen, dessen Vater erst Lehrer und dann ein Kleinunternehmer war. Zhou hatte eine bürgerliche Herkunft, die den Kommunisten verdächtig erschien.

Es gab eine Zeit, in der Zhou an die Partei glaubte, die China von den Engländern, Franzosen, den Japanern und vom Kapitalismus befreit hatte. Er glaubte daran, dass er hart an sich arbeiten musste, um seine bourgeoisen Wurzeln zu kappen, die tief in sein Bewusstsein zu reichen schienen. Eigentlich wollte Zhou Arzt werden. Lernte dafür Deutsch, weil die deutsche Medizin den Ruf hatte, die beste der Welt zu sein. Als er 18 Jahre alt geworden war, überredete ihn seine Schwester, es ihr gleichzutun, die Heimatstadt Shanghai zu verlassen, sich Mao anzuschließen, in den Untergrund zu gehen, zu kämpfen für China, gegen die japanischen Besatzer.

Der kleine Zhou in der großen Geschichte

Zhou schloss sich der Volksarmee an, wanderte nächtelang durch die Provinzen, im Rücken der Feind. Seine Kampfgenossen nannten ihn den „kleinen Zhou“. Ein schmächtiger junger Mann in den Wogen der Geschichte. Ein wahrer Patriot wollte er sein, so wie es sein Vater ihn gelehrt hatte.

Sein Großvater erzählte lieber von Konfuzius. Zhou erinnerte sich, wie sie zu sechst am Esstisch saßen. Der Großvater, keine Zähne mehr im Mund, die Haare grau, gebot den Kindern ruhig zu sein, denn beim Essen wurde nicht gesprochen. Nur um dann selbst zu reden. Von Ordnung und Pünktlichkeit, von Anstand, Durchhaltewillen und vom spartanischen Leben.

Das war nicht umsonst. Zhou war immer pünktlich auf die Minute, auch viel später noch in Deutschland. Vergaß nie etwas, denn er notierte sich alles auf Notizzettel, in seiner winzigen chinesischen Schrift. Seine Wohnung war fast leer, keine Bilder und Fotos an den Wänden, kein Krimskrams. Um sechs gab es Frühstück, um zwölf Mittag und um sechs wieder Abendbrot. Nur alle zwei Wochen gönnte er sich einen freien Tag, an dem er sich dann auch die Haare wusch. Unnachgiebig konnte er sein, verlangte von Marianne, seiner Frau, dass sie genauso ordentlich war, wie er. „Das musst du noch lernen“, sagte er zu ihr.

„Schwierig war es mit ihm“, sagt sie. „Schwierig, aber wundervoll.“

1949 stand er auf dem Platz des Himmlischen Friedens, als Mao die Volksrepublik China ausrief. Gekämpft, gar geschossen hatte Zhou nie. Er hatte Nachrichtenmeldungen übersetzt und per Ticker in die Welt geschickt. Oder Auslandsnachrichten auf Englisch durch das Radiomikrofon gesprochen. Nach der Revolution verfügte die Partei, dass Zhou ins Außenministerium zu gehen hatte, um der erste offizielle Deutsch-Dolmetscher für die Regierung zu werden. So ist das mit der Partei, sie schickt einen hierhin und dorthin, wie sie einen am besten braucht. Ob er damit glücklich ist, all diese westlichen Fragen nach Individualität und Selbstverwirklichung stellten sich für Zhou nicht.

Zhou Chun als junger Mann in Uniform
Zhou Chun als junger Mann in Uniform

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Das Foto zeigt ihn mit einer Mao-Mütze und einer Mao-Uniform, dazu ein glückliches Mao-Lächeln, so kommentierte der viel ältere Zhou in einer Fernsehdokumentation sein jüngeres Ich mit spöttischem Tonfall. Auf einem anderen Foto sitzt er zwischen Mao und einer DDR-Regierungsdelegation und übersetzt. Für Mao zu dolmetschen sei einfach gewesen, so Zhou, er habe immer nur in kurzen, knappen Sätzen gesprochen. Doch näher lernte er Mao nie kennen, er war ein Werkzeug, Mao der große Führer.

1957, Zhou war auf einer der üblichen Partei-Sitzungen seines neuen Arbeitgebers, einem kleinen Verlag. Auch das war so in China. Kein Betrieb, kein Bezirk, keine Organisation, in der nicht die Partei das Sagen hatte und bestimmte, wer wo arbeitete, wer wohin ziehen durfte. Zhou war gar kein Mitglied, die Wenigsten waren das damals. In den Kreis der Erleuchteten wurde nicht jeder aufgenommen. Dennoch musste Zhou zu der Versammlung. Und da konnte er seine Klappe nicht halten. Kollegen, die als Abweichler galten, standen für ein Jahr unter Verlagsarrest. Sie durften das Gebäude nicht verlassen, auf Kampfsitzungen wurden sie stundenlang angeschrien und mussten sich rechtfertigen. Zhou musste die hochschwangere Ehefrau eines der Kollegen am Tor des Verlages abweisen. Nach 12 Monaten stellte die Parteiführung fest, dass nun alles in Ordnung sei. Da stand Zhou auf und meinte, dass man sich doch bei den Kollegen für die falsche Anschuldigung entschuldigen müsse, wenigstens das.

Das war’s. Eine Partei entschuldigt sich nicht. Jetzt wurde Zhou Gegenstand von Kampfsitzungen, alle brüllten auf ihn ein. Als er auf einer Wandzeitung seinen Standpunkt begründete, war er endgültig gebrandmarkt. Zhou war jetzt ein Rechtsabweichler, schlimmer als ein Konterrevolutionär.

Das Urteil stand schon fest

Er kam vor Gericht, keine Fragen, keine Verhandlung, sein Urteil stand schon fest: „Sympathie für die Konterrevolutionäre, Angriff gegen die Partei und den Sozialismus, Ablehnung sich zu reformieren und sich von der Partei reformieren zu lassen.“ Fünf Jahre Gefängnis. 145 war seine Häftlingsnummer. Später konnte er diese Zahl nicht mehr sehen, ohne anzufangen zu zittern.

Seine erste Lektion im Gefängnis: Bloß kein Selbstmitleid! Wer sich und sein Schicksal beweint, hat schon verloren. Es gab ja Hoffnung, fünf Jahre konnte man rumkriegen. Und tatsächlich. Nach fünf Jahren Zwangsarbeit auf den Pekinger Gemüsefeldern bekam er seine Uhr zurück. Ihm wurde die Hand geschüttelt. Ihm wurde alles Gute gewünscht. Das Gefängnistor schloss sich hinter ihm. War das die Freiheit?

Nein. Vor dem Tor wartete einer, der ihn ins Arbeitslager brachte. Ein paar Monate in dem einen, dann ging es weiter in ein anderes und immer so weiter. Die Zwangsarbeiter sollten keine Freundschaften schließen. Dann schickten sie ihn in ein Dorf. Hier sollte ihm das Intellektuelle ausgetrieben werden. „Macht eure Hände schmutzig, damit eure Köpfe sauber werden“, hatte Mao gesagt. Zhou lebte in einer kleinen Hütte, hatte eine Mistgabel und einen Korb, sammelte den Mist ein und verkaufte ihn an die Bauern. Schweinemist war am wenigsten wert, Pferdemist am meisten.

Er wachte hungrig auf, ging hungrig zu Bett. Er war so dürr, dass die Bauern dachten, er würde bald sterben. Ein Arzt attestierte ihm, dass er mit 44 den Körper eines 64-Jährigen habe. Einmal klopfte es an seiner Tür, da standen zwei Bauersfrauen, sie schenkten ihm eine ganze Mahlzeit, Hirse und Süßkartoffeln und Mohrrüben. Das war das schönste, an das er sich erinnern kann. „Ich hatte eine Überlebensmethode gefunden“, sagte er später: „Arbeiten, essen, schlafen, aber bloß nicht denken.“

Die ereignislosen Jahre

1957 bis 1979. Jahre, in denen erst Maos „großer Sprung nach vorn“ Millionen an Hunger sterben ließ, in denen dann die Kulturrevolution Millionen weitere Menschenleben kostete. 1976 starb Mao. Die neue Regierung lockerte die Politik, die Wirtschaft, und auch die „Rechtsabweichler“ wurden entlassen.

Urplötzlich holten sie ihn ab. Ein Richter erklärte ihn für rehabilitiert und befahl: „Wenn dich jemand fragt, was du in den letzten 22 Jahren gemacht hast, sagst du ‚das waren ereignislose Jahre’.“

Ereignislose Jahre, die Zhou Alpträume bescherten, bis zuletzt, besonders diesen einen: Es regnet, es ist Nacht, er irrt auf dem Feld herum und sucht sein Arbeitslager. Findet es aber nicht. Er bekommt immer mehr Angst. Wenn ihn hier draußen jemand erwischt, ist es aus mit ihm.

Zurück nach Shanghai, zu seiner Familie. Seine Eltern, inzwischen weißhaarig, hatten ihn für Tod gehalten. Zhou unterrichtete jetzt Deutsch und Englisch an einer Fremdsprachenschule. Las und schrieb und brachte sein Gehirn auf Trab. Er hatte eine Menge nachzuholen. Die Universität Shanghai stellte ihn als Professor für vergleichende Literaturwissenschaften an. Als sei nichts gewesen. Da stand er in seinen Seminaren vorne, trug vor auf seine sanfte, humorvolle Art, als sei nichts gewesen. Studentinnen liebten ihn, schenkten ihm Blumen. Gastprofessoren aus Deutschland waren erstaunt, wie gut er Deutsch sprach, ohne ein einziges Mal in Deutschland gewesen zu sein. Die Parteisitzungen besuchte er nicht mehr. Doch er meldete sich zu Wort, wenn ihm was nicht passte.

Sie emiritierten ihn mit Anfang 60 und schickten ihn auf Vortragsreisen. Er ging in die USA, nach Kanada und endlich auch nach Deutschland. 1988 war das. Als die Panzer auf den Platz des Himmlischen Friedens rollten, war Zhou in Berlin und sollte eigentlich heimkehren. Doch er traute sich nicht, konnte nicht einordnen, was da in seiner Heimat passierte, ob es auch ihn treffen würde.

Also blieb er und baute sich ein neues Leben auf. Hielt Vorträge und Seminare über seine alte Heimat in Volkshochschulen, Universitäten und in der Urania. Er liebte das, mit dem Publikum zu flirten, und er kam an mit seiner sanften Sprache, besonders bei den Frauen. Was er dabei an Honoraren verdiente, war nie viel, aber es reichte ihm und für eine kleine Wohnung im Wedding.

Die Silhouette einer Frau

Dann kam das Jahr 1992, Zhou war 65 Jahre alt und traute sich zum ersten Mal nach den ereignislosen Jahren, sein Herz einer Frau zu öffnen. Es war der 3. Mai, ein kalter Tag. Er ging zum Zoopalast, doch der Film war ausverkauft. Er schaute auf die Filmplakate in den Schaukästen, sah, wie sich die Gedächtniskirche in den Glasscheiben spiegelte und erblickte in der Spiegelung auch die Silhouette einer Frau, Marianne. Er drehte sich um und sprach sie an. Sie unterhielten sich, gingen im Tiergarten spazieren, zwei, drei Stunden. Am Ende schrieb er auf einen Zettel seine Telefonnummer, seinem Namen, wie man ihn aussprach und wann sein neuer China-Kurs an der Volkshochschule begann.

Zhou Chun bei einem Vortrag an der Deutschen Schule in Shanghai
Zhou Chun bei einem Vortrag an der Deutschen Schule in Shanghai

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Marianne fand Zhou ganz anders als die deutsche Männer, so aufmerksam und sanft. Er führte sie in chinesische Restaurants, sie übernachteten beieinander. Sie verliebte sich in ihn, und er traute sich, sich auch in sie zu verlieben. 1994 heirateten sie, damit er nicht mehr alle drei Monate zur Ausländerbehörde musste, um seinen Duldungs-Status zu verlängern. Aber auch weil Zhou endlich bereit dazu war. „Misstrauisch war er“, sagt sie. „Er wurde so verhöhnt und schlimm behandelt, dass er noch Jahre darauf wartete, dass ich mein wahres Gesicht zeigen und ihn auch so behandeln würde. Deshalb musste ich sehr behutsam mit ihm sein. Nie sagte ich: ,Du redest aber Unsinn.’ Das hätte ihn aus der Bahn geworfen.“ Mit seinem Ordnungssinn konnte er sie zur Weißglut bringen. Aber sie liebte ihn, er tat ihr gut.

Zusammen gewohnt haben sie nie. Immer hatte er seine Wohnung und sie die ihre, auch als er zu ihr nach Friedenau zog. Da wohnte er in der Wohnung gegenüber. Abends kochte er für sie, wenn sie geschafft von der Arbeit kam. Sie putzte seine Wohnung. Um Geld hat er sie nie gebeten, hätte nie welches angenommen. Sie kaufte für ihn ein. Er schrieb zwei Bücher über sein Leben und das seiner Schwester. Sie tippte sie ab und organisierte seine Termine.

Mit der Zeit wuchs sein Heimweh. „Das Laub fällt auf die Wurzeln zurück“, heißt ein chinesisches Sprichwort. Erst traute er sich für einen Urlaub in die Heimat. Als nichts passierte, fragte er Marianne, ob sie mit ihm nach Shanghai ziehen würde. 2002 war das. Sie sagte ja. Erst bekam Zhou seine gesamte verpasste Rente mit einem Schlag ausgezahlt, dann kümmerte sich die Universität um eine Wohnung für ihn.

Marianne erlebte ihren Mann wie ausgewechselt. Nicht mehr so pedantisch und angespannt. Die Hälfte des Jahres lebte sie bei ihm, die andere in Deutschland. Am Flughafen fragte er stets: „Du kommst doch wieder?“ 2014 zogen sie zurück nach Berlin wegen der Gesundheit. Sie fand einen Platz für sich und ihn in einem Altenheim. Zwei Apartments nebeneinander, seins wie immer kahl und ordentlich.

Und immer noch stand er zu seinen Uhrzeiten auf. Zweimal die Woche ging er runter, um die Post zu holen. Im Februar ist er gestorben. Er wollte eine Erdbestattung. In China kommen alle in die Urne, das wäre ihm ein Graus gewesen.

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