zum Hauptinhalt
Wolfgang Utzt

© dpa

Nachruf auf Wolfgang Utzt: Wieder nichts! Alles abwischen

Mit jeder Inszenierung wurde er wieder zum Anfänger. Aber er war doch der Chefmaskenbildner des "Deutschen Theaters"!

In Andreas Dresens Film „Gundermann“ wird eine alte Baggerfahrerin gefragt, wie lange sie denn schon auf diesem Bagger sitze, und sie antwortet wahrheitsgemäß: „Na, schon immer!“ Präziser kann man das manchmal nicht sagen: Wolfgang Utzt war schon immer am „Deutschen Theater“. Wenn man von einer Seele dieser Einrichtung sprechen dürfte, so ist sie gewiss auch Utzt-förmig. Wolfgang Utzt war Maskenbildner.

Bereits bei seiner Geburt wusste sein Vater, was der Junge einmal werden würde: Friseur. Der Vater war Friseur in Calau, Niederlausitz, der Großvater war Friseur in Calau, Niederlausitz. Natürlich mit eigenem Salon. Das Leben lag schnurgerade vor ihm. Die Utzts nannten es „Familientradition“, die DDR sprach voller Argwohn von „privaten Gewerbetreibenden“. Einsicht in die führende Rolle der Arbeiterklasse war von denen kaum zu erwarten. Dass Wolfgang, das Nicht-Arbeiterkind, nicht auf die Erweiterte Oberschule gehen durfte, kränkte ihn sehr. Wozu braucht ein Friseur Abitur?, fragte der Vater.

Und Wolfgang Utzt begann im nahen Senftenberg, das Friseurhandwerk zu erlernen. Dort traf er einen merkwürdigen Mann, der war auch Friseur und war doch keiner. Er war Maskenbildner am Senftenberger Theater. Als Kind hatte Wolfgang Utzt in Berlin unterm Funkturm zugeschaut, wie aus einem zufälligen Passanten, Träger eines Allerweltsgesichts, mit Farbe und Modelliermasse Friedrich II. wurde. Er hat die Szene und den Magier nie vergessen.

Vortritt den Kindern der Arbeiterklasse!

Die Maskenbildnerei des Senftenberger „Theaters der Bergarbeiter“ wurde fortan Wolfgang Utzts zweiter, nein erster Ausbildungssalon. Er hospitierte, half aus, schuf Frisuren, die nicht auf die Akzeptanz der Kundschaft seines Vaters rechnen durften. Ebenso wenig wie die Schminktechnik.

Die Maske steht am Anfang der menschlichen Kultur. Unsere Bürgerrechte erhalten wir noch immer nicht als Individuen, sondern als Maskenträger. Denn ein Personalausweis ist ein Ausweis für jemanden, der durch die Maske spricht, wie im antiken Theater. Per-sonare heißt durchtönen.

Masken verdecken und machen sichtbar. Sie vergröbern, schaffen einen Typus. Und sie schützen. Wolfgang Utzts Vater wusste genau, wovon die Rede war. Zur Faschingszeit machte er Perücken, und die Calauer liehen im „Salon Utzt“ bunte Kostüme aus. Wie kann man den ehrbaren Beruf eines Friseurs gegen eine lebenslange Faschingsexistenz eintauschen wollen?

1959 sollte in Leipzig die erste Maskenbildner-Klasse ausgebildet werden. Utzt bestand die Aufnahmeprüfung mit Bravour, wurde aber trotzdem abgelehnt. Vortritt den Kindern der Arbeiterklasse! Voller Zorn fuhr der Abgelehnte daraufhin nach Berlin, zu dem Mann, der die Aufnahmeprüfung geleitet hatte. Der Chefmaskenbildner des „Deutschen Theaters“ hörte Wolfgang Utzts Klage über die Einrichtung der Welt und behielt ihn gleich da. Ankunft im Olymp mit 19 Jahren.

Auf dem Olymp wohnen die Götter, das ist für gewöhnliche Sterbliche kein immer angenehmer Aufenthaltsort. Auch schätzen die Götter es wenig, wenn ihre Gesichter zu Leinwänden für experimentell gesonnene Anfänger werden. Selbst als er längst ein Meister war, seit 1979 Chefmaskenbildner: Mit jeder neuen Inszenierung wurde er wieder zum Anfänger.

Der Utzt-Blick

Christine Schorn erinnert sich an den typischen Utzt-Blick. Wie er da vor ihr stand, sie leicht entrückt ansah, als suche er etwas. Es lag Sehnsucht in diesem Blick. Aber Sehnsucht wonach?, fragte sich die Angeschaute, die noch heute in der Lage ist, Regisseuren Auskünfte wie diese zu erteilen: „Nun treten Sie mal zur Seite und lassen mich meine Arbeit machen, ich habe das gelernt!“ Bei Utzt sagte sie so etwas nie. Immer hatte sie das Gefühl, ihm helfen zu müssen. Also übergab sie ihr Gesicht willig seinen Händen und protestierte nicht gegen die dicken Schichten Farbe, die er probeweise auftrug, als sei sie eine Leinwand. Wie sieht Alkmene aus, die Frau, der sich Zeus unter der Maske ihres Mannes nähert? Niemand wusste es. Nach jeder neuen Farbschicht schaute der Maler sein Modell, das zugleich seine Leinwand war, prüfend an, um dann langsam und ungemein verneinend den Kopf zu wiegen: Wieder nichts! Alles abwischen. Neuer Versuch. Eine Stunde verging, eine zweite. Der Maler malte. Aber immer das gleiche Ergebnis. Sie kannte den Namen seiner Sehnsucht: Vollkommenheit! Dafür hatte sie Verständnis. Sie vergaß, wer sie war, und dass sie noch etwas vorhatte im Leben. Nach drei Stunden aber, als der Maskenbildner aufs Neue nach seiner Palette griff, hob die unvollkommene Kandidatin der Vollkommenheit den Aschenbecher vom Tisch und schmetterte ihn auf die Platte. Stand auf und ging. So können die schönsten menschlichen Beziehungen enden. Aber bei ihrer nächsten Begegnung trat der Maskenbildner auf sie zu und sprach: „Weißt du was?“ – Pause – „Wir machen gar nichts!“ Sie wusste sofort, dass das nicht Resignation war, sondern der letzte Kumulationspunkt der Erkenntnis des Maskenbildners. So trat sie auf die Bühne, völlig nackt im Gesicht aber mit einem großen Turbanhut auf dem Kopf. Das war Friedo Solters „Amphitryon“-Inszenierung 1972.

[Die anderen Texte unserer Nachrufe-Rubrik lesen Sie hier
weitere Texte der Aurorin, Kerstin Decker, lesen Sie hier]

Gesichter sind wesenhaft offen, Willkommensflächen des Anderen. Mit Masken wie mit Schildern geschützt, ermöglichen sie auch die Begegnung mit dem, was nicht begegnen kann. Mit dem Außermenschlichen, den Göttern oder dem Tod in den frühesten Kulturen; viel später, auf dem Theater: mit der Geschichte. Tod und Geschichte sind den Masken Wolfgang Utzts eingeschrieben so wie Friedo Solters, Alexander Langs, Heiner Müllers, Thomas Langhoffs oder Robert Wilsons Inszenierungen. Ein Panoptikum des Fürchterlichen. Zuletzt sind alle Masken Totenmasken. Sie gehörten zur natürlichen Bilderwelt von Susanne Utzts Kindheit.

Der Maskenbildner und seine Tochter. Es gab wohl keinen am Theater, der dieses Verhältnis einer besonderen Innigkeit nicht bemerkte, zumal das Kind nicht sein leibliches Kind war. Als das Mädchen ihren künftigen Vater zum ersten Mal traf, war es fünf. „Es war Liebe auf den ersten Blick“, fasst Susanne Utzt die Begegnung zusammen. Fortan versäumte sie keine der nicht-kindgerechten Premieren ihres Vaters. Und nahm heftigsten Anteil an den Herausforderungen seiner Arbeit: Simone von Zglinicki wuchsen während ihres Monologs in Sean O’Caseys „Kikeriki“ Hörner. Zur Premiere rief ein kleines Mädchen laut vom ersten Rang: „Das hat mein Papa gemacht!“

Wer nie eine Universität besuchen durfte, wird am besten selber eine. Gespräche mit Utzt waren wie Promenaden durch die Kunstgeschichte. Wer wie er die Zeugen des Ursprungs suchte, fand sie überall. Utzt schaffte es sogar, den Maskenbildnern der Peking-Oper bei der Arbeit zuzusehen. Fast noch erstaunlicher aber ist, dass die größten Schauspieler, diese Souveräne der Pointe, in andächtiges Schweigen fielen, sobald ihr Maskenbildner begann, Geschichten zu erzählen.

Mancher stellte lieber ihm als dem Regisseur die alles entscheidende Frage: Wie war ich? Immer wieder saß Wolfgang Utzt in den Proben, denn nicht zuletzt in der Aktion der Spieler schienen ihre Zweitgesichter auf. „So wie wir“, sagt Jörg Gudzuhn, „manchmal erst durch seine Masken die kongeniale Art zu sprechen fanden.“ In Heiner Müllers „Mauser“ trugen Dagmar Manzel und er schließlich ihre Köpfe voran.

„Du trägst Glatze!“

Es brannte oft sehr lange Licht im vierten Stock des „Deutschen Theaters“. Utzt und seine Kollegen machten alles selbst. Ulrike Krumbiegel fand sich viel zu klein als Pallas Athene in „Ithaka“. Ob der Meister sie nicht vergrößern könne, nach oben? Und Utzt schuf einen römischen Simpsons-Punk-Helm in Weißgrau. Es ist am Theater letztlich doch nicht viel anders als beim Friseur. Immer der Streit um die Haare. Friseure gehen ein gewisses Risiko ein, wenn sie vor ihren Kunden stehen und rufen: „Eine Glatze, das wär’s!“ Utzt setzte sich gewöhnlich durch, aber nicht immer. Bernd Stempel, Inhaber einer makellosen Naturglatze, wünschte sich als Hofschranze Prinz Paul in „Die Großherzogin von Gerolstein“ von ganzem Herzen lange blonde Haare. Anfangs wurde er kurz abgefertigt: „Du trägst Glatze!“ Am Ende bekam er das lange, glatte Blond, und Utzt sagte bloß: Du hattest recht!

Irgendwann kamen auch Regisseure, die glaubten nicht an Masken und Kostüme. „Ihr geht auf die Bühne, wie ihr seid!“, sagte etwa Jürgen Gosch. Ruhestand? Auszug aus dem „Deutschen Theater“? Das Unvorstellbare geschah. Der Körper des Maskenbildners wehrte sich mit unheilbarem Zittern. Polyneuropathie, sagten die Ärzte.

Mit seiner Frau und Cora zog er in das Oderbruch. Cora ist ein über alles geliebter antiautoritär erzogener Hund. Gestützt auf den Stock, den George Tabori ihm geschenkt hatte, stand er nun Cora-umwedelt am Fluss und dachte an seine Enkelin Hanna. Trotz seiner bebenden Hände: Er würde ihr ein Buch malen und schreiben. Es heißt „Das Gürteltier kommt nachts um vier“, erschienen 2016. Vorn drauf ist ein Tier mit zwölf Gürteln um den Bauch. Es ist das Lieblingsbuch Hannas und aller etwas älteren Schauspieler des „Deutschen Theaters“.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false