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Wolfgang Müller

© Werner Krätzig

Nachruf auf Wolfgang Müller: „Willste Rock ’n‘ Roller sein oder Beamter?“

In einem Radiointerview sagte er: „Ick wollte immer schon mal inner stinknormalen Rockband spielen!“ Von da an hatte er Interview-Verbot.

Um 1983 herum tauchte Wolfgang regelmäßig im Gitarrenladen „Bebop“ auf: etwas hektisch, fachsimpelnd über Gitarren, Effektgeräte, Bands und Musiker. Er probierte Gitarren aus, spielte rasende Jazz-Skalen, beeindruckend präzise. Zufällig Anwesende verstummten in Ehrfurcht. Wer war dieser kleine, drahtige Typ?

Immer wieder kreuzte Wolfgang auf im Gitarrenladen, gleich um die Ecke von der Fachhochschule für Sozialarbeit, wo er eine Stelle als Dozent für Medienpädagogik hatte. Außerdem war er Gitarrist bei Rozz, einer Berliner Band, mit der er 1979 den Preis der Deutschen Phono-Akademie in der Sparte Jazz gewonnen hatte.

Seine Mutter hatte ihm einst den sehnlichen Wunsch nach einer ersten Gitarre erfüllt, die sie in Raten abbezahlte. Sein Vater starb, als er 13 war, und hinterließ eine Plattensammlung, Jazz, Rock ’n’ Roll, Beatles, die Wolfgangs Interesse früh ausgelöst hatte. Die Schulzeit war hart für ihn, die Nachbarschaft um die Neuköllner Sonnenallee rau.

Wolfgang spielte Gitarre, wann immer er konnte, sein größtes Vorbild war Carlos Santana, dessen Gitarrenmodell er auch spielte, eine Yamaha SG 2000. Eine ganze Weile jobbte er in der Gitarren-Abteilung von Musik Wiebach im Forum Steglitz. Er beriet Kunden und arbeitete in der Werkstatt.

Nach seiner Zeit bei Rozz spielte Wolfgang mehrere Jahre bei den Escalatorz. Das war was völlig anderes. Nicht mehr der kompliziert frickelige Rockjazz mit weit über die Schultern reichenden, mittelgescheitelten Haaren und dunklem Schnauzbart, sondern ein einfacher, dreckig aggressiver R & B-Sound. In einem Radiointerview sagte er: „Ick wollte immer schon mal inner stinknormalen Rockband spielen!“ Der Rest der Band war sauer: Müller, was erzählste fürn Scheiß? Wir sind keine stinknormale Rockband. Von da an hatte er Interview-Verbot.

Die Haare kurz, der Schnurrbart verschwunden

Trotzdem passte er trefflich in die Band: Mit Andreas, dem anderen Gitarristen, ergänzte er sich traumhaft. Die Twin Guitars, die parallel gespielten Soli der beiden, wurden zu einer Art Markenzeichen. Wolfgang hat das Stilmittel Jahre später noch in seiner rein instrumentalen Band M.E.S.S. weiterentwickelt.

Jetzt lief Wolfgang zweimal pro Woche zur Bandprobe, das Instrument im Gigbag mit wippendem Gang, in der Hand eine Bierdose, die er vor sich her trug wie eine Blumenvase. Die Haare waren kurz, der Schnurrbart verschwunden, aber das freundliche Hippiegrinsen war noch da. Auf der Bühne stand Wolfgang beim Solo in leichter Schräglage, Kippe im Mundwinkel, sehr cool, wenn er das Tremolo der gezogenen Töne rhythmisch vibrierend aus dem Gitarrenhals schüttelte.

Doch Wolfgang haderte: Sollte er auf die unsichere Rockstarkarriere setzen oder lieber einen Arbeitsvertrag mit dem Schöneberger Bezirksamt abschließen? Job auf Lebenszeit, Rentenanspruch. „Willste Rock ’n‘ Roller sein oder Beamter?“, frotzelten sie in der Band. Wolfgang entschied sich für die Sicherheit und wurde Leiter des Tonstudios im Kulturzentrum Weiße Rose. 1988 war das. Er half jetzt jungen Musikern bei ihren Aufnahmen, beim Komponieren und Arrangieren, immer bodenständig, nie von oben herab. Viele schwärmen noch heute von ihm.

Seine jungenhafter Charme hatte auch Irmgard berührt. 1983 waren sie sich an der Fachhochschule zum ersten Mal begegnet und mochten sich sofort. Sie verabredeten sich für einen bestimmten Tag, zu einer bestimmten Zeit, an einem bestimmten Ort – nein, nicht in Berlin, sondern in Frankreich, in Chomérac, einem kleinen Bergdorf in der Ardèche. Würden sie einander dort finden? Es klappte, ganz ohne Handy, und sie blieben zusammen.

1985 zog Irmgard mit ihrer Katze zu Wolfgang und seinem kleinen schwarzen Knäuelhund in die Hausgemeinschaft mit Anke und René am Wannsee. Wolfgang und Irmgard verschmolzen geradezu, die Leidenschaft fürs Kochen, fürs Reisen und fürs Wandern teilten sie, im Garten allerdings saß Wolfgang lieber ruhig rum statt zu werkeln.

Die Trautonium-Forschung

Auch berufliche Gemeinsamkeiten: Kinderladen, Einzelfallhilfe, Familienhilfe. Sie ergänzten einander. Natürlich gab’s auch härtere Zeiten. Als Irmgards Eltern pflegebedürftig wurden, war auch Wolfgang für sie da. Gute und schlechte Zeiten, zwölf Jahre schon – dann konnten sie doch eigentlich auch heiraten, fand Wolfgang. Und machte Irmgard einen formvollendeten Antrag. Sie heirateten in Nikolskoe, in der schönen Kirche an der Havel.

Beim Berliner Kultursenat suchten sie jemanden für die Trautonium-Forschung. Das Trautonium ist ein altes elektronisches Instrument, ein Vorgänger des Synthesizers. Nichts für Wolfgang, war ja keine Gitarre. Aber Nein sagen konnte er auch nicht, also war er dabei. Mit Unterstützung von Jürgen Hiller baute er ein eigenes Trautonium. Er recherchierte, lernte Spieltechniken, komponierte, und absolvierte Auftritte. Zum 100. Geburtstag des Komponisten Oskar Sala, dem Erfinder des Trautoniums, erschien Wolfgangs CD „Rekalibrationen“. Mit seinem Freund Peter Ehlert, mit dem er auch weiterhin bei M.E.S.S. Gitarre spielte absolvierte er weitere Konzerte mit dem merkwürdigen Tasteninstrument. Er schrieb Musik für Filme, Hörspiele, Theater.

Um seinen 60. Geburtstag herum spürte er, dass er kürzer treten sollte, und nahm eine Pause vom Trautonium, um nach zwei Jahren wieder weiter zu machen.

Dann erzählte er, dass er sich auf die Rente freue, dass er endlich wieder mehr Zeit für sich selbst haben wolle, dass er gerade dabei sei, Stratocaster und Marshall zu reaktivieren. Er freute sich darauf, in Ruhe im Garten sitzen zu können, noch mal die alten Science-Fiction-Romane und Comics zu lesen: Tim und Struppi, Marsupilami, Asterix. Und er wollte seine Familie öfter treffen, seine Schwester, die Neffen, den Schwager, er wollte sich um seine Mutter kümmern und wieder mehr Zeit für Irmgard und alte Freunde haben, für Abende mit Essen und schönem Wein. Und sie würden reisen und Wanderungen machen. Vielleicht noch mal Frankreich.

Im Sommer, Wolfgang war seit Januar in Rente, fuhren sie zusammen ins Erzgebirge. Kurz vor der Rückreise, bei einem Waldspaziergang, starb Wolfgang. Ein Aneurysma.

[Wir schreiben regelmäßig über nicht-prominente Berliner, die in jüngster Zeit verstorben sind. Wenn Sie vom Ableben eines Menschen erfahren, über den wir einen Nachruf schreiben sollten, melden Sie sich bitte bei uns: nachrufe@tagesspiegel.de. Wie die Nachrufe entstehen, erfahren Sie hier.]

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