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Wolfgang Kernbach

© privat

Nachruf auf Wolfgang Kernbach: Er spielte einfach

Schließlich durfte er sich „Oberinspektor der Deutschen Post“ nennen. Musik machte er trotzdem weiter

Die ersten Töne, an die er sich erinnerte, waren tosend, brüllend, schrill. Flugzeuge, die am Himmel auftauchten, Sirenen, die heulten, explodierende Bomben, zerberstende Häuser, schreiende Menschen. Ein Inferno von Tönen, das sich tief in seinen vierjährigen Kinderkopf eingrub.

Sie mussten weg aus Königsberg, im September 1944, Wolfgang, die ältere Schwester, die Mutter. Sein Vater war im Krieg. Im Teich hinter dem Haus, das jetzt nicht mehr stand, trieben tote Pferde. Sie erklommen einen Viehwaggon, der sie in ein Auffanglager im erzgebirgischen Aue brachte. Dort hörte Wolfgang andere Töne. In der Holzbaracke, in der sie schliefen, hatte man einen Lautsprecher angebracht. Regelmäßig rief eine hartnäckig überzeugte Frau: „Ruhe, der Führer spricht!“, dann gellte eine Stimme aus der Anlage und verkündete den „Endsieg“.

Von Aue siedelten die drei über ins thüringische Ilmenau, wo sie die Befreiung erlebten, und wo der Vater wieder zu ihnen stieß. Machten sich dann zu viert weiter auf den Weg nach Berlin, zogen in Zehlendorf von einer Bleibe zur nächsten. Beschäftigten sich ständig mit der Beschaffung von Geld, Lebensmitteln und Brennholz. Und wenn die Winterkälte endlich gewichen war, empfand Wolfgang immer wieder dieses kleine Glück, endlich die langen, kratzenden, braunen Strümpfe ausziehen zu können. Jahrzehnte später schrieb er: „Mit der Farbe Braun habe ich heute noch so meine Probleme.“

Die Töne, die er jetzt hörte, waren schön. Frisch, flott, dafür gemacht, den Fuß im Takt mitwippen zu lassen. Amerikanische Rhythmen, Songs auf AFN.

Wolfgangs Vater war Musiker. Vor dem Krieg hatte er bei einem Königsberger Radiosender als Bandoneon-Solist gearbeitet und daneben begonnen, eine Musikalienhandlung aufzubauen. Doch alles zerbrach, er wurde eingezogen. In Berlin dann besorgte er sich wieder ein Bandoneon und spielte darauf alte, leichte Schlager in Hinterhöfen und in den Clubs der US-Soldaten.

Der Vater brauchte neue Noten

Die deutsche Tanzmusik hatte mit dem Swing der Amerikaner allerdings wenig zu tun. Der Vater brauchte neue Noten, musste neue Stücke einstudieren. Eins der Lieder durfte Wolfgang mitsingen: „It’s Been a Long, Long Time“. Viele, viele Jahre später würde er das langsame Lied immer noch singen. Er spürte in der Musik eine Freiheit, die der Blick auf Ruinen, auf die gehetzten Gesichter der Leute nicht gewährte.

Sollte Wolfgang selbst ein Instrument erlernen? Die Frage stellte sich nicht. Er spielte einfach. Zuerst fehlte beim Festumzug eines Laubenpieperfestes der Trommler. Wolfgang, klein und schmal, bekam den Koloss vor den Bauch geschnallt, und marschierte, auf das monströse Ding einschlagend, mit der jubelnden Truppe. Den Takt hielt er, aber seine Fingerknöchel, die bei jedem „Wumm“ mit auf das Trommelfell knallten, schmerzten höllisch.

Dann versuchte er es mit dem Bandoneon. Aber auch das ein Witz, dieses Riesengerät an seinem kleinen Körper. Danach probierte er ein Cello. Das ihn um 20 Zentimeter überragte. Zwischendrin tauchte noch eine Blockflöte aus Bakelit auf. Und dann kam die Trompete. Der Anfang war schwer: Töne halten, Ansatzübungen, Fingerspiel. 1956 begann er eine Ausbildung an einer ausgezeichneten Musikschule. Überall wurde geblasen, gestrichen, geflötet, geklimpert, eine große Kakophonie, die immerhin dazu führte, dass die jungen Musikanten lernten, sich auf ihr eigenes Spiel zu konzentrieren, unabhängig von falschen Tönen um sie herum. Wolfgang übte vier, fünf Stunden täglich. Er brachte sich selbst Gitarre bei, nahm Gesangsstunden, schrieb Noten. Und zog, da war er 16, 17, mit seinem Vater von Kneipe zu Kneipe, einer am Akkordeon, der andere an der Gitarre, „die glücklichste Zeit meines Lebens“.

Die Quäker besaßen in Zehlendorf eine Villa, die zu großen Teilen leer stand. Überlassen wir doch einen Raum der Jugend, entschieden sie, und so gab es plötzlich einen Tanzclub und eine Möglichkeit für Bands, zu proben. Wolfgangs erste Dixieland-Combo, „The King Street Stompers“, repetierte Standards und Rock’n’ Roll-Nummern, und die Zuhörer stampften und schleuderten ihre Köpfe und Arme durch die Luft.

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weitere Texte der Autorin, Tatjana Wulfert, lesen Sie hier]

Wolfgang konnte von den Auftritten leben. Hatte über Monate feste Engagements. Anfang der 60er landete er in Trier, im „Tanzkeller Astoria“. Eine junge Frau stand vorn an der Bühne. Marlies. Die beiden heirateten. Und dann begleitete sie ihn zwei Jahre auf seinen Tourneen, was ihre erzkatholischen Eltern schwierig fanden. Doch nach zwei Jahren war es auch für sie genug, Wolfgang sollte sich etwas Festes, Sicheres in Trier suchen. Er lernte den Leiter des Sportvereins kennen, der schrecklich Geige spielte, aber unbedingt ein Orchester wollte. „Gründen Sie eins“, sagte er zu Wolfgang, der erwiderte: „Mach ich. Wenn Sie mir eine Festanstellung als technischer Zeichner bei der Post besorgen.“ Er hatte vom Zeichnen nicht den geringsten Schimmer – und bekam die Stelle. Am ersten Arbeitstag hielt er zum ersten Mal einen Tuschestift in der Hand. Aber er lernte schnell, und zum Ende durfte er sich „Oberinspektor der Deutschen Post“ nennen.

Musik machte er trotzdem weiter, jedes Wochenende. Zwei Leben, die er führte, eins zu Hause bei Marlies und den beiden Kindern, das andere im Licht der Scheinwerfer irgendwo. In und um Trier gab es eine Menge US-Basen. Die Soldaten liebten die alten Hits, konnten den Namen der Band, „Wolfgang Kernbach Combo“ jedoch kaum aussprechen. So wurde daraus die „Pete Stone Combo“, was noch der betrunkenste Texaner korrekt lallen konnte.

In den 90ern kehrten viele Soldaten zurück in die USA, Wolfgangs Publikum schrumpfte, er pausierte. Aber ganz ohne Musik? Nein! Er stieg wieder ein. 2009 starb Marlies. Er begann, ein Songbook anzulegen. Besorgte sich einen Computer und schrieb von morgens bis abends Noten, umgeben von seinem Kontrabass und den Gitarren, den Trompeten und Flügelhörnern, die an den Wänden hingen. Man hätte ihn nachts wecken können, weil in irgendeinem Orchester jemand ausgefallen war, er wäre aufgesprungen, hätte eines der Instrumente gegriffen und ohne Probe einwandfrei losspielt. Aber da war der Krebs schon da, den ersten hat er noch überlebt, den zweiten nicht.

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