zum Hauptinhalt
Werner Lehrke

© privat

Nachruf auf Werner Lehrke: "Kommunist" ist kein Schimpfwort

„Kleiner Revoluzzer“ und „Venezuela-Werner“ haben sie ihn genannt. Und er war Lehrer - trotz Radikalenerlass.

Ein Freitag Ende Mai. Werner Lehrke, in der Kreuzberger Szene „Kleiner Revoluzzer“ oder „Venezuela-Werner“ genannt, wird verabschiedet aus dieser Welt, die er bei weitem nicht so verändern konnte, wie er es wollte. Am Heinrichplatz, vorm „Müßiggang“, einem linken Antiquariat, über dem seit Jahren das Transparent „Kapitalismus. Schweinesystem!“ prangt, steigen schwarze und weiße Luftballons in den Himmel. Eine Bettlerin aus Osteuropa hat zwei für ihre Tochter ergattert. Das hätte ihn gefreut. Später wird Werners blaue Urne auf dem Friedhof in der Erde versenkt, dazu erklingt die Internationale und ein Lied von Mercedes Sosa.

Werner kam aus dem Ruhrpott, seine Eltern waren kleine Leute mit kleinen Träumen, der Vater Polier auf dem Bau, die Mutter Schneiderin. Ob sie tatsächlich Kommunisten waren, Widerständler gar, wie er es erzählt hat, wird bezweifelt. Eher wohl linke Sozialdemokraten, die über die Politik und den unbefriedigenden Weltenzustand am Küchentisch diskutierten. Zur Abwechslung kam der Junge zur Oma, die kochte genial und tanzte mit ihm argentinischen Tango. Gegen Eltern und Großeltern musste er nicht aufbegehren. Aber sich eine Wunschbiografie zuzulegen, lag nicht fern. Das hatte sein Lieblingsautor Peter Weiss auch getan.

Die Radikalisierung beginnt an der Uni Bochum. Dort studiert er bei Urs Jaeggi Soziologie, es geht um Macht und Herrschaft, Kapitalismus, Vietnam, Widerstand, Antiimperialismus. Er jobbt, er wird vom Staat, den er immer mehr verachtet, unterstützt, er wechselt nach Dortmund, weil man hier schnell Lehrer werden und Geld verdienen kann. Auf den Hauptschulen, die in den 70er Jahren noch keine Resteschulen sind, sondern extrem politisiert, ruht seine Hoffnung: Am revolutionären Bewusstsein arbeitet man am besten schon ganz früh.

Abweichler werden bekämpft

Werner landet bei der KPD / ML, einer jener kommunistischen Kleinparteien, die im harten Wettstreit um den einzig richtigen Weg ins Paradies stehen. Die Arbeiter, für die sie in den Klassenkampf ziehen, haben wenig Verständnis, die Wahlergebnisse in den Hochburgen Bochum und Dortmund sind enttäuschend. Umso härter debattieren die Genossen ihre Strategie. Aschenbecher quellen über, Bier- und Schnapsgläser werden im Akkord geleert, man misstraut einander, bekämpft Abweichler. Von Einheitsfront keine Spur. Werner gilt als besonders vehement, irgendwann streut jemand das Gerücht, er habe ein Maschinengewehr im Keller. Entnervt zieht er sich Anfang der 70er aus der Partei zurück.

Eine Rolle mag dabei auch spielen, dass ein aktiver Kommunist um seine Existenz als Lehrer fürchten muss. Es gilt der Radikalenerlass; der Staat nimmt seine Angestellten unter die Lupe. Um ein Berufsverbot kommt Werner mit Glück, einem guten Anwalt und dem Schwur auf die Freiheitlich demokratische Grundordnung herum. Dass er sie nach wie vor ablehnt, muss vor Gericht niemand erfahren. Im Lehrerkollegium teilen etliche seine Auffassung. Man unterstützt einander.

Als Lehrer hat er oft Ferien. Mit Studienfreunden bereist er Südostasien, Latein- und Mittelamerika, Afrika. Werner interessiert sich nicht für schöne Landschaften. Er spricht mit den Leuten, er will wissen, wie andere die Welt zu einem besseren Ort machen.

Im Sommer 1989 zieht er nach West-Berlin. Der Ruhrpott erscheint ihm zurückgeblieben, Provinz. Als kurz darauf die Mauer fällt, empfindet er das als Genugtuung; für ihn hat die DDR immer schon Verrat geübt an den marxistischen Idealen. Doch was nun, da diese Ideale auf dem Prüfstand stehen, da immer mehr sie für verfehlt betrachten und sich abwenden? Für ihn sind das alles Wendehälse. Die Gesellschaft ist doch keine andere. Es gibt sie nach wie vor, die da unten und die da oben. Man darf das doch nicht hinnehmen, nur weil sie im Osten versagt haben!

Werner arbeitet in einer reformpädagogischen Schule in Moabit, doch nach drei Jahren ist das Geschichte. Es geht ihm schlecht, geistig, körperlich. Er zieht durch psychosomatische Kliniken, aber wirklich fit wird er nicht mehr. Mit nicht mal 50 ist Schluss mit dem Lehrersein. Werner bezieht eine bescheidene Beamtenpension.

Er findet eine schöne bezahlbare Wohnung in Kreuzberg im vierten Stock, die später für den atemlosen Raucher immer schwerer erreichbar wird. Vorerst aber beginnt er ein neues Leben. Werner beginnt ein Archäologiestudium am Lateinamerika-Institut. Junge Menschen aus aller Welt bereichern seinen Freundeskreis. Auf Mittelamerika-Exkursionen muss er allerdings feststellen, dass sein Körper die mühevollen Ausgrabungen nicht mehr zulässt. So bleibt das Studium ein unabgeschlossenes Privatvergnügen.

Ein sorgenfreies Leben im System

Und wer verändert jetzt die Welt? Werner sieht Antifa und Autonome in Bewegung, in Ost-Berlin nach der Wende werden wieder Häuser besetzt, Freiräume inmitten des neu aufblühenden Kapitalismus. „Kommunist“ ist in diesen Kreisen kein Schimpfwort, der Dialog mit der Jugend funktioniert, auch wenn er in den Augen der wilden Habenichtse aus einer anderen Zeit zu stammen scheint und mit seiner Pension ein merkwürdig sorgenfreies Leben im System führen darf.

Ein Herzinfarkt mit Anfang 50 bremst ihn nur kurz in seinem Elan. Werner besucht Lesungen und Diskussionsrunden und mahnt dort immer wieder den Klassenstandpunkt an. Selbst wenn es sich um die Literaturzeitschrift „DreckSack“ dreht, die Stimmen vom Rand der Gesellschaft einfängt. Längst ist er mit der „Jungen Welt“ und dem „Neuen Deutschland“ unterwegs. Wie viele Kilometer er als Demonstrant das Berliner Pflaster abläuft, kann niemand überblicken. Wie viel Geld er für linke und globalisierungskritische Projekte wie die „Rote Hilfe“, „Attac“ oder „Freunde in Not“ spendet, auch nicht. Seine Geburtstage im Garten des „Yorkschlösschen“ sind legendäre Begegnungsmomente seiner internationalen Freundesschar. Politische Diskussionen sind ausdrücklich erwünscht, wenn auch nicht immer unbeschwert. Die alten bösen Worte, Reformismus, Revisionismus klingen so böse wie eh und je, und die schlimmste Frage lautet: Wählst du jetzt die Grünen?

In den letzten zwei Jahrzehnten schaut Werner vor allem nach Lateinamerika. Da lebt der Traum von der Revolution. Die Wintermonate verbringt er in Venezuela – das tut auch seiner geschundenen Lunge gut. Er sieht die Wirtschaftskrise, Inflation, Stromausfälle, soziale Unruhen, aber Schuld daran ist doch nicht die Sozialistenwirtschaft, sondern der US-Imperialismus und die Sanktionen! Werner will helfen, wo er kann. Was genau er da drüben tut, bleibt für die Freunde in Kreuzberg unergründlich. Sicher ist, dass er die oppositionelle Kommunistische Partei Venezuelas, die in den Richtungskämpfen der Linken auf einmal als verlängerter Arm des US-Imperialismus gilt, unterstützt. Mit Medikamenten, Geld, und jedes Mal mit der Angst, ein weiterer Genosse könnte verschwunden sein.

Wegen Corona kann er im letzten Winter nicht hinüberfahren. Herz- und lungenschwach hat er eine große Angst vor der Krankheit. Und steckt sich an, niemand weiß, wie das geschah.

[Wir schreiben regelmäßig über nicht-prominente Berliner, die in jüngster Zeit verstorben sind. Wenn Sie vom Ableben eines Menschen erfahren, über den wir einen Nachruf schreiben sollten, melden Sie sich bitte bei uns: nachrufe@tagesspiegel.de. Wie die Nachrufe entstehen, erfahren Sie hier.]

Zur Startseite