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Nachruf auf Werner Kasprzyk (Geb. 1933): Wer rückt die Tonnen gerade?

Wie ein Kind war er, manchmal sonnig, manchmal furchtbar wütend. Bis er 60 war, lebte Werner Kasprzyk bei seiner Mutter. Dann zog er in eine Wohngemeinschaft für geistig Behinderte und führte ein beinahe sorgenfreies Leben. Hauptsache die Müllabfuhr kam pünktlich. Ein Nachruf.

Von David Ensikat

Werner lebte schon seit Jahren in der Wohngemeinschaft, zusammen mit Renate, Horst und Ilse. Jeden Tag um elf kam ein Betreuer, manchmal auch zwei. Vielleicht hatte Werner von irgendwem erfahren, dass andere Leute alleine wohnen, und dass bei ihnen keiner vorbeikommt, der ihnen beim Leben hilft. Vielleicht war es ihm bei „Sturm der Liebe“ aufgefallen, der Fernsehserie, die er so gern sah: Die Leute dort lebten irgendwie anders. Also fragte er einen der Betreuer: „Warum is’ dit so?“

„Weil Sie behindert sind, Werner“, sagte der Betreuer. „Sie können nicht alleine leben und brauchen Hilfe.“

Das überraschte Werner: „Ach echt? Dit habick ja noch janich’ jewusst.“

Damit hatte sich die Sache erledigt. Werner war Mitte 60 und hatte wichtigere Themen. Die Mülltonnen im Hof unter seinem Fenster etwa. Die wurden immer mittwochs geleert, und Werner beobachtete das ganz genau. Manchmal kamen die Müllmänner eine Stunde später als sonst, oder sie stellten die Tonnen nicht ordentlich zurück. Dann wurde Werner fuchsteufelswild. Denn wer musste die Tonnen dann wieder geraderücken? Werner selbstverständlich. Tat ja niemand sonst. Die Betreuer konnten dann mit einem schlimmen Tag rechnen. Wenn Werner etwas aufregte, dann lang und richtig.

Und wenn er etwas mochte, sollten auch alle Anteil daran haben. Es gibt ein paar Videoaufnahmen von Ausflügen, da freut sich dieser ältere Herr mit den schönen blauen Augen und den kurzen weißen Haaren wie ein sonniges Kind. In einem Restaurant im Spreewald fährt eine Modelleisenbahn zu den Tischen und bringt die Getränke. Werner sitzt neben dem Gleis und ruft: „Gleich kommt er wieder! Gleich kommt er wieder!“ Dann kommt der Zug, und man kann gar nicht anders, als sich mit Werner freuen. Hat er’s nicht gesagt?

Und wie er in die Hände klatscht, weil das Akkordeon im Kurcafé so schön spielt. Das steckt sogar die gehörlose Ilse an. Sie klatscht mit, weil Werner ihr ja zeigt, wie schön das alles ist. „Hörste dit?“, ruft er vergnügt. „Hörste dit?“

Ein Kind, manchmal sonnig, manchmal wütend, das war Werner. „Ein zehnjähriges Kind, denke ich mal“, sagt ein Betreuer. Seine Kollegin: „Höchstens. Vielleicht auch eher acht oder neun.“ Nur mit dem Unterschied, dass Werner nicht so gut lernen konnte. Was ein Zehnjähriger ganz schnell begreift, dauerte bei ihm Jahre. Das Waschen war so ein Problem. Erst in der letzten Zeit duschte sich Werner jeden Tag und konnte das sogar genießen. Bis er 60 war, hatte es Waschtage gegeben: einmal in der Woche mit der Mutter im Stadtbad Steglitz.

Das war vor seiner Zeit in der Wohngemeinschaft. Darüber ist nur so viel bekannt, wie er selbst erzählt hat, also nicht allzu viel. Sein Vater war im Krieg geblieben. Das hat Werner mitbekommen, weil seine Mutter auf einmal schwarze Sachen trug, die er überhaupt nicht mochte. Er wurde nach München geschickt in ein Heim der Kirche und bekam dort Unterricht. Den einzigen, den er in seinem Leben hatte. Er lernte, wie man schreibt und wie man Kartoffeln schält. Bomben fielen auf das Heim, Werner wurde verschüttet. Wie er aus dem Loch kroch und oben die toten Nonnen am Boden liegen sah, daran sollte er sich sein Leben lang erinnern.

Nach dem Krieg lebte er wieder zu Hause bei der Mutter, die ganze Zeit, bis er 60 war. Dann kam die Mutter ins Krankenhaus und konnte sich um ihren Jungen nicht mehr kümmern. Vielleicht hätte es ihm gut getan, wenn er schon eher rausgekommen wäre. Es gibt ein paar Alben mit vergilbten Fotos, die er gemacht hat. Überall ist die Mutter drauf, kaum mal jemand anderes. Die Alben blieben im Keller der WG; in seinem Zimmer wollte Werner sie nicht haben.

Was gewesen war, war ihm so egal wie das, was werden sollte. „Ein glücklicher Mensch“, sagt die Betreuerin, „Rente, Versicherung, Existenzangst – davon hatte Werner keinen Schimmer.“ Er hatte eine Freundin in der Wohngemeinschaft, mit der er gemeinsam Fernsehen guckte, die ihm Frühstück und Abendessen machte und ihm den Rücken mit Franzbranntwein einrieb. Erst war das Karin, und als die starb, Renate. Gut, Renate konnte auch etwas anstrengend sein. Manchmal stellte sie ihren Wecker auf 3 Uhr 15 am Morgen. Dann hockte sie sich neben Werners Bett und erzählte ihm, was ihr so durch den Kopf ging.

Aber er konnte sich auch gut allein beschäftigen. Bis auf ein paar klare Regeln können die Bewohner dieser WG vom „Unionhilfswerk“ tun und lassen, was sie wollen. Werner interessierte sich besonders für den Personennahverkehr. Er kannte die Fahrpläne und alle Verbindungen und war viel unterwegs. Sehr gern setzte er sich auf die Bahnsteige in Wannsee oder Schönefeld. Da halten auch die Regionalzüge; man kann das Ineinandergreifen der Verkehrskonzepte beobachten. Und man kann das Personal benachrichtigen, wenn mal etwas nicht funktioniert, wenn eine Lampe ausgefallen ist oder eine Tür nicht öffnet.

Im letzten Jahr war Werner seltener draußen. Er war auch nicht mehr so lange sauer, wenn die Müllabfuhr mal später kam. Und schließlich kam der Krebs. Keine große Sache für Werner, denn wie so etwas enden kann, interessierte ihn nicht. Am Tag bevor er starb, war er noch bester Laune. Er sah „Sturm der Liebe“, die Folge 1591, in der es eine Hochzeit gibt, viel Hoffnung, viel Enttäuschung. Dann kam sein Betreuer noch zu Besuch. Als er sich von ihm verabschiedete, rief Werner: „Tschüss! Und passense auf sich auf!“

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