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Nachruf auf Ulrich Krenzien: Jetzt ist Schluss!

Erst war er Dachdecker. Nachdem das nicht mehr lief, übernahm er eine Dartkneipe. Auch mit der war's schwierig. Aber er brauchte ja nicht viel.

Nach der großen Flut an der Nordseeküste 1962, als vielen Haus und Hof absoff, mussten sich auch die Krenziens ein neues Zuhause suchen. Der Vater war Drucker, die Mutter führte eine Kneipe, die sich immer irgendwo fand. Im westfälischen Ahlen wurden sie schließlich heimisch mit vielen Hunden und vier Kindern. Eigentlich wurden die Kinder von den Hunden erzogen, denn die Eltern hatten wenig Zeit und nebenbei noch etliche Gänse zu hüten, aber die liefen eigentlich nur Ulrich hinterher, um ihn zu piesacken. Der Dorfschullehrer drangsalierte noch biestiger, aber untereinander passte es, die Schüler hielten zusammen und die Familie auch.

Die Eltern legten großen Wert auf Bildung, also kam er auf eine höhere Schule, und sie zahlten Ulrich den Segelflugschein, so sah er früh die Welt von oben. Wenn auch nur die Bielefelder Welt, wo sein Segelflugverein war. Jedes Wochenende ging es raus auf den Flugplatz und dann hoch über den Teutoburger Wald. Er hatte gern die Übersicht, über alles. Nicht ohne Sinn also, dass er eine Dachdeckerlehre begann und sich nach der Meisterprüfung selbstständig machte.

Sein Bruder war nach Berlin gezogen, werkelte dort als Künstler, was Ulrich sehr bewunderte, auch deswegen war er ihm in die große Stadt gefolgt. Ein wenig ähnelten sie als Brüderpaar Theo und Vincent van Gogh, denn Ulrich war immer da, hilfsbereit, zugewandt, und sehr stolz auf seinen Künstler-Bruder, der als „Wobulist“ von sich reden machte, aber das ist eine andere Geschichte. Als der große Bruder anfing, Didgeridoo zu spielen, tat Ulrich es ihm nach mit einem noch größeren Didgeridoo aus eigener Fabrikation. Da war immer ein wenig die Sehnsucht nach Rollentausch, aber Ulrich hätte es mit der Kunst nie auf einen grünen Zweig gebracht, musste er auch nicht, weil er als Dachdecker gutes Geld verdiente.

Im Gipsbett mit drei Rückenbrüchen

Wären da nicht die Frauen gewesen, die es gern ausgaben. Mit der einen oder anderen seiner Freundinnen hatte er kein Glück, und Kinder wollte er nicht, da hatte er früh vorgesorgt, dass ihm das nicht passieren konnte, und so war es eigentlich keine große Tragödie, als er mit dem Geschäft pleite ging. Körperlich war es eh nur noch eine Qual gewesen, nach seinem Sturz von der Leiter. Er hatte sich noch selbst in die Notaufnahme chauffiert, wo sie ihn sofort in ein Gipsbett verlegten, Rücken gebrochen, drei Mal. Aber da gab es immer noch Plan B, weil Biggi, die Chefin seiner Stammkneipe, nach über 30 Jahren nicht mehr wollte, also übernahm er mit einem Freund den „Scotsman“, die älteste und berühmteste Dartkneipe der Stadt. Einige der besten Spieler Europas hatten sich dort schon sehen lassen, aber in den letzten Jahren war es etwas ruhiger geworden, zu ruhig.

Für das Dartspiel brauchte es eine sichere Hand und ein gutes Auge, beides hatte Ulrich. Nicht zufällig ließ er sich einen Indianer auf seinen Oberarm tätowieren. Wie die Indianer rauchte er auch ab und an gern ein Pfeifchen, für den inneren Frieden eins und eins für den Weltfrieden und manche einfach so zum Spaß. Aber daran lag es nicht, dass die Kneipe kein Geld brachte, es war einfach nicht mehr die Zeit dafür. Darüber konnte er viel und lange reden, über die Zeitläufte im Allgemeinen und die Dummheit der Menschen im Besonderen. Er war unglaublich wissbegierig, hatte zu allem seine Meinung, die er gern auch kundtat, ohne sein Gegenüber zu Wort kommen zu lassen, denn es konnte nur einen geben, der alles besser wusste. Pointen müssen sitzen wie Dartpfeile, das hatte er von seinen Freunden, den Schauspielern Peter Schlesinger und Holger Münzer gelernt; er selbst stand lieber, gern auch auf der Bühne, doch das war nur ein kurzes Intermezzo, als sie gemeinsam Kabarett spielten. Freunde blieben sie bis zum Schluss.

Nach der Pleite seiner Dachdeckerfirma hatte Ulrich noch eine Zeitlang als Angestellter im eigenen Betrieb gearbeitet, dank einer guten Freundin, die sich um alles kümmerte. Aber eigentlich war er froh, als er endlich ganz aufhören konnte, die Schwindelanfälle setzten ihm zu, die Arbeit in der Kneipe war auch nicht wirklich seins, und so zog er sich aus allem zurück. Er brauchte ja nicht viel. Auf Auto, Uhr, Anzug legte er keinen Wert, Ansprache fand er bei Scottie, seinem spitzgedackelten hochbeinigen Terrier-Mischling, den er am Gleisdreieck die Grünflächen rauf und runter jagte. Ihm selbst fielen manche Bewegungen zunehmend schwerer, das hat auch seinen Grund, sagten die Ärzte und diagnostizierten ALS, diese tückische, unheilbare Nervenerkrankung.

Vier Jahre gaben sie ihm, vier Jahre, die er auch nicht anders verbringen wollte als die Jahre zuvor. Er war glücklich mit sich und der Welt und mit Scottie. Mittels Computer konnte er sich noch einigermaßen verständigen, aber natürlich wurmte es ihn, dass er nicht mehr so richtig Tacheles reden konnte. Denn wenn er die öffentlichen Vordenker in den Fernseh-Talkrunden hörte, keinen Schimmer von nichts, da hätte er gern seine Sicht der Dinge noch mal klargestellt. Weil es denen nämlich nicht um die Sache ging, so fand er, sondern nur um ihr Ego. Schwätzer allesamt. Aber er blieb still, musste ja still bleiben. Gehen konnte er noch, mit Scottie, der verstand ihn auch ohne große Worte. Doch als die beiden dann mal von einem Spaziergang zurückkamen und Ulrich den Schlüssel nicht mehr ins Schloss brachte, weil die Hände ihm den Dienst versagten, da wusste er: Jetzt ist Schluss.

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Zeit für den Abgang. Er wollte nicht mehr. Beim letzten Besuch sagte er seinem Bruder: „Noch 14 Tage, dann hat sich alles erledigt.“ Und er fügte per Mail hinzu: „Sorgt euch nicht, seid nicht traurig!“ Weil: Ein Indianer kennt keinen Schmerz, und wenn er ihn kennen lernt, dann zeigt er ihn nicht. Schon gar nicht, wenn es auf die große Reise geht. Die ganz große Reise. Wie seinerzeit, Ende der 70er, mit dem One-Way-Ticket nach Australien. Endlos lange ins Meer hinausschwimmen, über die weiten Wüsten segeln, das wäre es gewesen. Aber sie wollten ihn damals nicht einreisen lassen. One-Way-Ticket, das hatte ihn verdächtig gemacht als illegalen Einwanderer.

Diesmal ging die Reise nicht so weit und doch viel weiter. Sein Wunsch war es, dass seine Asche in den Bergen verstreut würde, weil still mit dem Wind war er schon immer eins gewesen, mit sich selbst sowieso und nun auch mit der Welt.

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