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Thomas Petry Strauss

© privat

Nachruf auf Thomas Petry Strauss: Weiter, immer weiter

Geboren in Berlin, aufgewachsen in New Yorck, dann Chicago - Berlin - Chicago - Jerusalem - Maine - Berlin. Nachruf auf ein Leben unterwegs

Also los, weiter, immer weiter, Jahre um Jahre, über Ozeane, von einem Land in ein nächstes, von dieser Stadt in jene, übers Meer auf einen anderen Kontinent, zurück zum Ausgangspunkt, und von dort an einen Ort, in ein Dorf, in dem er bleiben wird, länger, als er irgendwo geblieben ist.

Der Ausgangspunkt: Berlin. Hier wird Tom geboren, hinein in eine jüdische Familie. An seinen Vater aber fehlt fast jede Erinnerung. Denn der stirbt, früh schon, nach einem Fahrradunfall. Doch schließt sich die Lücke schnell: Thomas’ Mutter heiratet 1933 in Paris den Philosophen Leo Strauss, der 1934 ein Rockefeller-Stipendium in Cambridge erhält. Also los, zu dritt über den Ärmelkanal nach Großbritannien. Sie sind rechtzeitig raus aus Deutschland. Und Berlin bleibt folglich nur ein Schemen für Tom, unscharf sind die wenigen Bilder in seiner Erinnerung.

1938 läuft das Cambridge-Stipendium des Stiefvaters aus, eine Rückkehr nach Deutschland ist ausgeschlossen. Doch die Dinge fügen sich. Leo Strauss bekommt einen Ruf an die New School for Social Research in New York.

Also wieder weiter, über den Atlantik in die Vereinigten Staaten. Sie sind in Sicherheit.

Kindheit und Jugend in New York, dort geht es von einem Viertel ins nächste, Harlem, Riverdale, Brooklyn.

Dann wieder weiter, gen Westen, nach Chicago, an den Michigansee. Tom macht dort einen Bachelor of Arts. Und außerdem eine Schauspielausbildung. Einen Sommer lang zieht er mit der „Shakespeare Company“ durch die Gegend, aber so richtig kommt er nicht aus sich raus, ist zu gehemmt, die große mimische Geste zu zeigen. Er heiratet. Er lässt sich scheiden. Er weiß nicht, was jetzt.

Junge Männer, die nicht wissen, was jetzt, sind zu allen Zeiten auf die Idee verfallen, Soldat zu werden. Man wird gebraucht, man hat zu tun. Dazu die Abenteuerflausen in den ahnungslosen Köpfen. Tom bewirbt sich beim Militär, die Amerikaner führen Krieg gegen Korea. Doch ein Officer sagt: „Sie sprechen Deutsch, Sie gehen nach Berlin.“ Sein Deutsch ist ein kindliches, aber gut, dann eben zurück über den Atlantik, zurück auf Anfang.

Der Schöngeist als Agent

Er wird für geheimdienstliche Aufgaben eingesetzt. Cornelia, die letzte und langjährigste Frau, die aus seinem Leben erzählt, schaut amüsiert: „Hätten Sie ihn gekannt, bekämen Sie einen Lachanfall.“ Offenbar unvorstellbar, der spätere Tom, Flaneur, Schöngeist, Künstler, damals als Agent. Obwohl sich auch da rasch andeutet, dass es bessere Agenten gibt. Die Mauerstadt ist zu verlockend: das Haus in Dahlem, die Streifzüge durch West-Berlin, durch Ost-Berlin, die Theater, „Mutter Courage“ mit Helene Weigel am Berliner Ensemble. Als seine Vorgesetzten mitkriegen, dass er sich einem Mädchen auf der kommunistischen Seite ein wenig zu sehr zugewandt hat, wird auch ihnen seine geringe Eignung deutlich. Toms Karriere im Geheimdienst ist beendet.

Er immatrikuliert sich an der Freien Universität für Theaterwissenschaften.

Und denkt: Eine kleine Reise, warum nicht. Nach Paris, Paris ist immer gut. Zumal er dort Verwandtschaft hat. Im Zug sitzt ihm eine Frau gegenüber, Eva, eine Berlinerin. Sie kommen sich näher. Eva scheint die Richtige. „Komm mit mir über den Atlantik, nach Chicago“, sagt er zu ihr, und sie kommt mit. Er bricht das Studium in Berlin ab, sie heiraten, bekommen zwei Kinder, Tom arbeitet beim Fernsehen, beim Public Broadcasting Service, dem öffentlich-rechtlichen Sender in den USA. Aber nicht vor oder hinter der Kamera, sondern als Manager. Er fährt ständig durchs Land und bekommt dann das Angebot, eine Fernsehstation in Syracuse, New York, aufzubauen. Also erneut ein Umzug.

Bis er wieder weiter will

Eva konvertiert zum Judentum. Sie engagieren sich in der Gemeinde. Aber bleiben? Einige Jahre schon. Bis er wieder weiter will.

Dieses Mal zu einer anderen Art von Ausgangspunkt: nach Israel. Er erhält eine Stelle für Audiovisuelle Kommunikation an der Jerusalemer Universität. Er spricht nur Englisch, was ihn betrübt. Weil er es einfach nicht hinbekommt, Ivrit zu lernen. Ein paar Worte, ein paar Sätze ja, aber für die Universität zu wenig. Trotzdem gefällt es ihm gut in Israel. Er organisiert Ausstellungen, mit Robert Rauschenberg etwa. Und beginnt, selbst Kunst zu machen. Sammelt Schrottteile von Kriegsgeräten, die in der Landschaft herumliegen, und schweißt daraus Objekte zusammen. Derweil fällt seine Ehe auseinander.

1974 findet am See Genezareth ein Seminar zu psychologischen Themen statt, geleitet von einer Deutschen, Cornelia. Tom übernimmt die Videobetreuung, hat dann aber Lust zuzuhören und mischt sich unter die Teilnehmer. Sie kommen sich näher, er und die Deutsche, sie werden ein Paar. „Komm mit mir nach Amerika“, sagt er zu ihr, und sie kommt mit ihm. Sie leben in Maine, er arbeitet beim Fernsehen, sie schreibt ihre Dissertation.

Doch Maine, finden beide, ist grauenhaft, fast nur weiß, stockkonservativ. Also nach Berlin, zurück auf Anfang. 1981 überquert er ein letztes Mal mit seinem Hausstand den Atlantik.

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Bis 1994 leitet er eine audiovisuelle Abteilung für die U.S. Army.

Er liebt Berlin, doch etwas Kleines im Grünen, das wäre ideal. Es wird etwas Großes, ein 200 Jahre altes Fachwerkhaus in der Uckermark mit Anbau und Stall und viel Land drumherum. Hier hat er eine riesige Garage, sein Atelier, hier experimentiert er mit Materialien, probiert Techniken. Hier bleibt er, hier ist sein neuer Ausgangspunkt.

Um nach Berlin zu fahren, mindestens einmal in der Woche. Ohne die Stadt geht es nicht. Außerdem hat er in Berlin zu tun, ist Sprecher in der englischen Redaktion der Deutschen Welle. Und verliert endlich, im Alter von 65 Jahren, seine Hemmungen als Schauspieler. Die Arbeit fürs Radio hat dabei geholfen. Es sind oft kleine Rollen in Serien, in Fernsehfilmen, „Das Adlon“, „Tatort“. Ab und an auch größere, in „Die Päpstin“ etwa. Und dann darf er beim „Pianist“ mitspielen, eine Nebenrolle nur, aber es ist ein Polanski-Film! Polanski ist der Größte für ihn.

Seine letzte Rolle bekommt er mit 87. Sein Herz ist aber schon zu schwach. Jetzt kann er nicht mehr weiter.

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