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Steffen Rissmann (1936-2019)

© privat

Nachruf auf Steffen Rissmann (Geb. 1936): So viel Geschichte unter einem Dach!

Ein Hoteldirektor alter Schule, Gastgeber von ganzem Herzen. Seine Bühne war das "Bogota"

Der Handkuss für die Damen war ein Muss. Selbst als er schon verwirrt war und gar nicht genau wusste, wer bei ihm im Wohnzimmer saß, als er, geschwächt vom Krebs, auf dünnen Beinen vor den Besucherinnen stand, über die er sich immer noch freute. Ein Kavalier, so nennt ihn sein Sohn. Ein Hoteldirektor alter Schule, Gastgeber von ganzem Herzen. Seine Bühne war das "Bogota". Schlüterstraße 45, Charlottenburg. „My favorite hotel of the world“, hat Filmstar Rupert Everett es genannt. Wer unter dem orangefarbenen Baldachin in die holzgetäfelte Lobby lief, merkte: Er betrat eine andere Welt. Eine Legende. Ein Brief, adressiert ans „Hotel Bogota, Europa“, kam an.

Friedrich der Große hatte Steffen Rissmann 1976 nach Berlin gelockt, von ihm war der Schlesier besessen. Über den Preußenkönig wusste er alles, die Familie auch. „Onkel Fritz“ wurde er nur genannt. Bücher, Bilder, Büsten, Rissmann sammelte ihn in jeder Form. Schon in seinem Kinderzimmer hatte er ein Porträt von ihm hängen. Eine Vaterfigur, glaubt Rissmanns Sohn.

Als Rissmanns Tochter einmal sagte: „Ich hätte gern meinen Großvater kennen gelernt“, da erwiderte er: Ich auch. Steffen war sechs, als sein Vater bei einem Unfall im Fronturlaub starb. Mit der Mutter zog er im Treck aus Schlesien nach Schleswig-Holstein, zwei Jahre dauerte die Flucht, zwischendurch waren sie im tschechischen Lager und in Bitterfeld interniert. Aber gelitten, erzählte er später, ja, beharrte darauf, wenn seine drei Kinder daran zweifelten, gelitten habe er nie. Lieber erzählte er vom Spielen mit den anderen Jungs. Und der Hunger? Ach, er war eh kein guter Esser damals.

Was sich gründlich geändert hat. Essen spielte im Leben der Familie eine zentrale Rolle, fränkische Bratwurst aß der Erwachsene so gern wie feine Sternekost, dafür nahm der begeisterte Autofahrer gerne Umwege in Kauf. Die Route für die alljährliche Tour nach Spanien, Heimat seiner Frau Carolin, wurde immer nach den besten Restaurants an der Strecke geplant. Zum Menu orderten sie Hauswein, das Geld gaben sie lieber fürs Speisen aus. Und zum Abschluss: immer ein Eis. Süßes hat er geliebt.

So viel Geschichte unter einem Dach!

In den Restaurants konnte er sich nicht verkneifen, unterm Tisch erstmal das Besteck zu polieren – je feiner das Lokal, desto dezenter. Seinen Hoteliersblick konnte er nicht ausschalten, über Kellner, die Fehler machten, ärgerte er sich sehr. Und im Hotel fand er es unerträglich, wenn im Kleiderschrank ein Sammelsurium an Bügeln hing. Da kam dann wohl der Preuße in ihm durch.

Wobei ihm an Friedrich dem Großen vor allem das Französische gefiel, die Haltung des Laisser-faire. Tolerant lebten sie selber, der gläubige Protestant und seine katholische Frau. Jeden Sonntag gingen sie in die Kirche, zur Messe in St. Ludwig, und alle vier Wochen in die Gedächtniskirche zum Gottesdienst.

Ein besseres Haus als das Bogota hätte der Geschichtsbessene, der auch ein Fan von Karl dem Großen war, nicht finden können. So viel Berliner, so viel deutsche Historie unter einem Dach! Ein Haus voller Risse und Wunden, schäbig und schön. 1911 erbaut, wurden in dem prächtigen Bau in den 20er Jahren legendäre Partys mit Benny Goodman gefeiert, oben hatte die Modefotografin Yva ihr Atelier, da bildete sie den jungen Helmut Newton aus.

Yva wurde 1942 von den Nazis ermordet, die den jüdischen Besitzer enteignet und in dem Haus die Filmabteilung der Reichskulturkammer eingerichtet hatten. Nach dem Krieg siedelten die Briten die Entnazifizierungsstelle für Kulturschaffende an – Heinz Rühmann und Furtwängler wurden zum Rapport bestellt. Und dann verwandelte sich die Schlüterstraße 45 in ein gastliches Haus. In den Riesenwohnungen von einst, einige mehr als 400 Quadratmeter groß, wurden West-Berliner Pensionen eingerichtet. Heinz Rewald, von den Nazis in die Flucht getrieben und nun aus Kolumbien zurückgekehrt, führte sie zum Hotel zusammen, dem er den Namen Bogota gab.

Als die Rissmanns 1976 übernahmen, ließen sie erstmal Warmwasser installieren, rissen die Styropordecken runter, übernahmen ausrangierte Möbel vom Kempinski, den Tresen vom Schweizer Hof. Das Bogota mit seinen 115 Zimmern hatte trotz deren Schlichtheit das Flair eines großbürgerlichen Traditionshauses. Zu kleinbürgerlichen Preisen. Die Historie wurde gepflegt, Yvas Fotos hingen an den Wänden, die alte Holztelefonkabine war Kulisse in einigen Filmen. Im Frühstückssalon wurde am Abend Swing getanzt. Die „Neue Zürcher Zeitung“ bescheinigte dem Haus „eine Atmosphäre wie aus einem Erich-Kästner-Roman“.

Auf Auktionen ersteigerte Rissmann Antiquitäten, alte Gemälde, Spiegel und Teppiche, die er übers ganze Haus verteilte. Für Minimalisten war das nichts. Einige Gäste tauschten schon mal ein Bild aus, wenn ihnen der Schinken im Zimmer nicht passte. Dann nahmen sie sich eins vom Flur. Sie fühlten sich offenbar zu Hause.

Und er selbst? Rissmanns Bruder trauerte sein Leben lang dem verlorenen Rittergut der Familie nach. Steffen suchte sich eine neue Heimat. Die fand er in Banz, wo die Familie noch heute ihr Refugium mit großem Garten hat, und wo fast alle Enkel getauft wurden. Die sanften Hügel Oberfrankens haben ihn an Schlesien erinnert. Eigentlich hatte er ja Förster werden wollen, schon als Vierjähriger hat er sich grün verkleidet. Wegen eines Augenfehlers wurde nichts daraus. Auf die Jagd, wie der Rest der Familie, ging er nie. Sein Vater sei in den Wald gegangen, um zu töten. Er, um Tiere anzuschauen.

Jägerschnitzel mit Knoblauch

In Banz leitete er mit seiner Frau in den 60ern, 70ern ein Gasthaus im Flügel eines so genannten Schlosses, das einmal Kloster gewesen war. Die elegante Spanierin lernte fränkische Klöße herzustellen und schmeckte das Jägerschnitzel mit Knoblauch ab. Für die einen ein Skandal, für die anderen ein Segen. Sie strichen Möbel rot und blau, versteckten hässliche Tische unter Decken, die bis zum Boden reichten. Im Flur hängten sie Degen und falsche El Grecos auf. Rissmann war morgens der Erste und abends der Letzte, war sich für keine Arbeit zu schade. Die Hoteliers mussten alles können, auch Klospülungen reparieren, denn die gingen in aller Regel am Wochenende kaputt.

Aus Stammgästen wurden Freunde, darunter einige West-Berliner. Doch im unwirtlichen Winter im Zonenrandgebiet mottete das Ehepaar die Herberge ein, brachte die Kinder unter, dann ging’s auf große Reise, bis nach Indien, Nepal, Afrika. Wieder zurück, wurden Mitbringsel, Geschichten und Dias ausgepackt. Dass er, der Jüngste unter den vier Geschwistern, der weltoffenste wurde, hatte viel mit den Pfadfindern zu tun. Als Jugendlicher war er mit ihnen nach Frankreich und Italien gefahren, immer im Zweierteam, den Baedeker in der Hand. Noch nie hatte er bis dahin Weißbrot gegessen, am Obststand biss er in seine erste Paprika – ein bisschen enttäuscht, weil er eine süße Frucht erwartet hatte. Nach Dänemark, quasi vor der Haustür, fuhr er nie. Der Norden reizte ihn nicht, ihn zog es in den Süden. Mit den Pfadfinderfreunden hielt er bis zum Schluss Kontakt.

Auch die Tourismusbranche lockte ja mit dem Versprechen des Reisens. Seine Mutter dachte pragmatischer: Da hast du immer was zu essen. Gelernt hat Steffen Rissmann im Hamburger „Vier Jahreszeiten“, einem der besten Hotels im ganzen Land. Darauf war er stolz. Der Entschluss, sich selbstständig zu machen, war schnell gefällt, er wollte sich nicht mehr schlagen lassen. Zwei Ohrfeigen hatte er in der Lehre kassiert, beide ungerecht, wie er fand, eine dritte hätte die Kündigung bedeutet.

Steffen Rissmann wurde ein „Heidelberger“ – die renommierte Hotelfachschule am Neckar war so international wie Deutschland in den 50er Jahren nur sein konnte –, er fuhr als Kellner mit dem Schiff nach New York, heuerte an im Zürcher „Baur au Lac“, noch so eine noble Adresse. Auch hier fand er Menschen, denen er bis zum Schluss die Treue hielt, so wie sie ihm.

In Paris traf er die Frau fürs Leben. Als Au-Pair war die Spanierin an die Seine gekommen. Auf der Île Saint-Louis gingen sie tanzen, auf der Straße haben sie sich verlobt. Ein grünes Seidentuch mit roter Rose hat er Carolin geschenkt. Einmal, auf dem Schiff, wehte es ihr davon und kam wie ein Bumerang zurückgeflogen. Geheiratet haben sie an ihrer nächsten Station: London. Von der Hochzeit drehte die BBC sogar einen kleinen Film. Eine Spanierin, die in London einen Deutschen heiratet, mit dem sie französisch sprach, das war 1962 aufregend genu. Seine Mutter, eine strenge Frau, die sehr harsch sein konnte und Schwiegerkinder wie Enkel gegeneinander ausspielte, war nicht erfreut über die kosmopolitische Liaison.

Das junge Paar war so verliebt wie pragmatisch. Die Schiffsfahrt nach Teneriffa, ihrem nächsten Arbeitsplatz, erklärten sie zur Hochzeitsreise. Sie träumten von Kanada und landeten in Bad Salzuflen. Steffen Rissmann hatte auf den Kanaren die Sehnsucht nach Deutschland gepackt. So arbeiteten sie in Frankfurt, Düsseldorf, Bad Salzuflen.

„Kinder, gebt der Frau doch den Rabatt“

Trotz seines Faibles für den alten Fritz – als Chef hatte Rissmann, ein großer Fan von Loriot, nichts Preußisch-Soldatisches an sich. Eher etwas herzliches, meint Moncef Ben Aouicha, der 40 Jahre lang als Empfangschef im Bogota gearbeitet hat. Der gebürtigen Tunesier kann von seinem alten Boss nur schwärmen, von der Wertschätzung, dem Vertrauen. Was dem Bogota an Luxus fehlte, wurde mit persönlicher Atmosphäre wettgemacht. Er zählt auf, wie lange die Kollegen blieben: mehr als 20 Jahre der Elektriker und der Maler, 35 das eine Zimmermädchen, knapp 30 das andere. Der Durchschnitt lag bei 17 Jahren. Alle wurden mit Handschlag begrüßt, zum Geburtstag überreichte der Chef im Tweedblazer mit Halstuch den Mitarbeitern einen Umschlag mit Glückwunschkarte und einem Schein. Er hat sie gelobt und kritisiert, aber Fehler nie nachgetragen. Gab es Ärger mit einem Gast, stand er hinter ihnen. 2001 erhielt das Haus um die Ecke vom Kurfürstendamm die Auszeichnung als freundlichstes Hotel Berlins.

Auch seinem Sohn gegenüber war Steffen Rissmann großzügig, als dieser, seit 1993 dabei, 2006 die Direktion übernahm. Von Anfang an hatte er große Freiheiten. Dabei fiel es dem Vater, anders als der Mutter, schwer loszulassen, von der Bühne abzutreten. Abends, auf dem Heimweg von der Schaubühne oder der Philharmonie, schaute er immer noch mal vorbei.

„Kinder“, sagte er als Chef gern zu den Angestellten. „Kinder, gebt der Frau doch den Rabatt.“ Es gab da diese Berlinerin, die kaum was hatte, aber einmal im Monat für eine Nacht kam, um Fernsehen zu gucken und für das Zimmer einen Sonderpreis verlangte. Eine Freundin seiner Töchter lud er ein, drei Monate ins Hotel zu ziehen, um sich aufs Abitur vorzubereiten, was bei ihr zu Hause unmöglich war.

Er unterhielt sich gern mit den Gästen. Und die sich mit ihm, dem begabten Erzähler. Gerade Geschäftsreisende, die mehr Zeit als Unterhaltung hatten. Wenn die eigene Familie ihn zum Essen rief, dauerte es oft eine Stunde, bis er kam.

Seine Tochter, die ebenfalls im Bogota arbeitete, hätte sich manchmal gewünscht, ebenso zuvorkommend wie die Gäste behandelt zu werden. In den letzten Jahren, mit fortschreitender Krankheit, wurde er ungeduldiger, strenger. Wobei – auf bestimmte Dinge hatte er schon immer penibel Wert gelegt, auf Tischmanieren vor allem, überhaupt Höflichkeit. Ganz am Schluss hat er sich bei seiner Frau, die ihn pflegte, und bei den Kindern für jede Wohltat bedankt.

In der Familie ging es oft hoch her, da wurde so heftig gestritten, dass Besucher ganz erschrocken waren. Sie lernten, dass der Krach keineswegs das Ende der Familienbande bedeutete. Im Gegenteil: Nach all dem Geschrei, Getobe und Türenknallen hat man sich wieder umarmt und geküsst. Als lustig hat der älteste Enkel den Großvater in Erinnerung, der ein ganz großer Loriot-Fan war, als liebevoll, gerade in der schwierigen Zeit, in der seine Eltern sich trennten. Das Bogota hat der Junge erst mal gar nicht als Hotel wahrgenommen, sondern als Treffpunkt für das ausgedehnte Frühstück, zu dem die Familie sich jeden Morgen um elf traf, und zu dem sich jeder setzen konnte, der gerade vorbeikam.

Auch das Ende des Bogota ist Teil der Geschichte dieser Stadt. In der Boomzeit der 70er und 80er machten Schulklassen, deren Berlin-Reisen subventioniert wurden, und Reisegruppen das Hauptgeschäft aus. Nach der Wende kamen mehr Individualreisende. Jetzt eröffneten die großen Hotelketten und boten Dumpingpreise an. Der Wunsch, das Charlottenburger Haus zu kaufen, ging nicht in Erfüllung, Hotelbuchungsportale machten das Geschäft noch schwerer. Die Miete stand aus, der Eigentümer, ein Investor, hatte mit dem ganzen Karree andere Pläne. Proteste von Prominenten wie Lars Eidinger, Hanna Schygulla, Ilja Richter, dessen Mutter lange im Hotel gewohnt hatte, und der einen Film über das Bogota drehte, halfen nichts. Die Schließung 2013 mit anschließender Luxussanierung und Umwandlung in ein Geschäftshaus erlebte Steffen Rissmann als traumatisch.

Im Hotel wie daheim war er immer der Weihnachtsmann gewesen: derjenige, der die Feier für die Mitarbeiter im Frühstückssalon organisierte und daheim den Tannenbaum schmückte, der bis an die hohe Decke der großbürgerlichen Wohnung reichen musste. Jedes Mal anders, einmal ganz in rot, dann wieder bunt oder mit Bienenwachskerzen. Den letzten Baum konnte er nicht mehr schmücken. Den hat er nur kritisiert. Er lag auf der Couch, umtost vom Leben, Carolin, die Enkel, Kinder, Schwiegerkinder, ein einziges Getümmel.

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