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Siegward Jung

© privat

Nachruf auf Siegward Jung: Was blieb ihm übrig?

Nein sagen, sich streiten, sich mit einem eigenen Willen durchsetzen, dass konnte er nicht, noch nicht. Er lernte es, ein bisschen jedenfalls

Das große Foto an der Wand ihrer Wohnung zeigt ihren Vater. Wie er auf einem Sportplatz steht. Alt ist er geworden, die Schultern nach vorne gebeugt. Bekleidet nur mit einem Krankenhauskittel und einem blauen Bademantel, den er sich lässig um die Hüfte gebunden hat. Seine Füße und seine Beine sind nackt. Vor ihm hüpfen zwei Jungs, seine Enkel, ein Ball landet im Basketballkorb. Nicht zu sehen auf dem Foto ist der Rollstuhl, aus dem er sich gerade erhoben hat, um mitzuspielen. Die Tochter zeigt auf das Bild und sagt: „Das war mein Vater, 23 Stunden ging es ihm schlecht, in der 24. stand er auf, um mit seinen Enkeln um die Wette zu rennen, fangen zu spielen oder Basketball. Er war der beste Opa, den sie haben konnten.“

Siegward redete nie über sich. Feste mochte er auch nicht, da hätte er sich mit so vielen Leuten unterhalten müssen. Sein eigener Geburtstag war ihm ein Graus. Er tat alles dafür, dass der irgendwie vergessen wurde. Wollte er außer Haus, lauschte er an der Tür, ob er auf dem Gang Nachbarn hörte. Bloß kein Small Talk, kein „Wie geht es Ihnen?“, darin war er nicht gut. Wenn die Luft rein war, ging er raus.

Einmal aber, als 2015 die Flüchtlingskrise über die Bildschirme Deutschlands flimmerte, erzählte er seinem Enkel, wie das damals für ihn war. Als er als vierjähriger Junge in einem Planwagen aus Schlesien kam. Mit ihm waren seine Mutter, seine Schwestern und sein Zwillingsbruder. Er sprach über die Angst, über die Dunkelheit, die Kälte und die vielen Nächte, mal am Wegesrand, mal in Heuschobern. Es war ein langer Weg, bis sie endlich auf einem Bauernhof in Schleswig-Holstein ankamen. Hier bekamen sie ein Dach über dem Kopf und zu essen. Dafür mussten sie schuften, bis sie fast umfielen.

Weil seine Mutter das so wollte, lernte Siegward im Geschäft seines Vaters, wie man Sessel und Couchen polstert. Dass er lieber zur Bank gegangen wäre, spielte keine Rolle. Er war der handwerklich Begabte und sollte das Erbe antreten. Es vergingen Jahre, in denen Siegward sich fügte. Was blieb ihm übrig? Nein sagen, sich streiten, sich mit einem eigenen Willen durchsetzen, dass konnte er nicht, noch nicht. Sein Bruder, mit dem er jede freie Minute verbrachte, war da anders, unabhängiger und stärker.

Ein eigener Weg, endlich!

Es muss Siegward gequält haben, er muss mit sich gerungen haben, doch dann war der Moment gekommen, an dem er genug hatte. Er sagte seinen Eltern, dass er nicht mehr in der Polsterei arbeiten wollte, sie übernehmen schon gar nicht. Er wollte jetzt seinen eigenen Weg gehen, setzte sich in den Zug und fuhr zu seinem Bruder nach Hamburg.

1976, ein Urlaub in den österreichischen Bergen. Marleen lernte Siegward kennen, es war, als seien sie schon ewig tief vertraut. Sie konnte mit ihm lachen, reden, Quatsch machen. Alles war so leicht in seiner Gesellschaft. Klarer Fall, sie war in diesen Mann mit Vollbart verliebt. Außerdem fuhr er ganz passabel Ski, konnte tanzen und schaffte es immer wieder, sie von der Skigruppe wegzulotsen. Als sie zurück in Bochum war, fand sie einen Brief von ihm im Kasten, drin steckte eine Fahrkarte nach Hamburg. Klarer Fall, er musste auch in sie verliebt sein. Sie schrieben sich, sie besuchten sich, nach nicht einmal einem dreiviertel Jahr zog sie zu ihm. Für die Hochzeit rasierte er sich den Bart ab. Da hätte sie fast Nein gesagt.

Die Tochter schrieb in ihrer schönsten Kinderschrift einen Brief an seine Chefs. Darin beschwerte sie sich, dass der Schichtdienst ihren Vater krank machte und dass er deswegen nicht mehr richtig schlafen könne. Siegward arbeitete bei Philips in der EDV. Er überwachte die Dateneingabe in die verschiedenen Programme, anfangs hantierte er noch mit Lochkarten. Etwas Gutes hatte der Nachtdienst immerhin: Wenn er nachmittags ausgeschlafen war, konnte er mit seiner Tochter Fahrradausflüge machen, im See baden oder in den Wald gehen. Da erzählte er eine ausgedachte Geschichte nach der anderen, und die Zeit verging wie im Flug. Siegward nahm also den Brief mit auf die Arbeit, gab ihn seinen Chefs, so erzählte er es seiner Tochter. Eine Woche später lag ein Brief von seinen Chefs im Briefkasten. In Maschinenschrift bedankten sie sich, es täte ihnen leid, dass ihr Vater so viel arbeiten müsse und manchmal auch nachts. Er sei nunmal ein wichtiger Mitarbeiter, und es ginge nicht anders. Dazu gab es Süßigkeiten. Hatten die Chefs wirklich geantwortet? War es der Vater selbst? Sie weiß es nicht. „Der Schichtdienst hat ihn fertiggemacht“, sagt die Tochter, „aber die Arbeit passte eigentlich zu ihm. Da musste er nicht mit so vielen anderen Menschen reden.“

Einmal, in Dänemark, im Urlaub, kamen sie an einem schrottreifen Fahrrad vorbei. Das lag am Straßenrand. Er musste es natürlich einpacken: Das lässt sich bestimmt noch reparieren! Seine Steuererklärung brachte er persönlich mit dem Rad zur zuständigen Behörde, 40 Kilometer weit fuhr er dafür. Der Donnerstag war ihm heilig, da kam die „Zeit“, die er von vorn bis hinten durchlas in seinem alten Ohrensessel. Interessierte ihn ein Artikel besonders, zum Beispiel über den Klimawandel, den technischen Fortschritt, schnitt er ihn aus und legte ihn der Tochter auf den Frühstücksteller. Den Rest der Zeitung packte er auf den Dachboden, zu den anderen, die er seit 1976 sammelte. Er wusste so viel, rückte damit aber nur heraus, wenn man ihn fragte. Als sein Bruder im Hospiz lag, fuhr er jeden Tag hin, war von morgens bis abends da, begleitete ihn in den Tod.

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Die Enkel kamen auf die Welt, beide zu früh, sie waren oft krank. Siegward setzte sich frühmorgens in den Zug, fuhr nach Berlin und brachte die Kinder zum Arzt. Er schob sie im Kinderwagen durch die Parks, fütterte, herzte und liebte sie. Vielleicht konnte er so gut mit ihnen, weil er im Herzen selber noch ein Kind war. Einer, der mit der Welt der Erwachsenen, ihren Konventionen und Anforderungen nicht so viel anfangen konnte.

Irgendwann schlug die Tochter vor, dass er und die Mutter nach Berlin ziehen könnten. Sie würden doch älter, die Familie wäre zusammen, er könnte die Enkel immer sehen. Gegenüber wäre eine Wohnung zu haben. Es war vielleicht die schwerste Entscheidung, die sie fällen mussten. Sie verkauften das Haus, das sie gebaut hatten, und zogen nach Kreuzberg. 2012 war das. Siegward hatte schnell raus, wo es die besten Brötchen gab, wo die schönsten Radstrecken langgingen. Er studierte die Zeitungen, suchte Tipps für besondere Geschäfte, Ausstellungen und Restaurants und fuhr mit seiner Frau dorthin. Bevor ein Jahr vergangen war, war die Stadt schon seine.

Im Wald, am See, beim Vorlesen, beim Bauen und Basteln – Siegward war der beste Opa. Man bekam es gar nicht richtig mit, dass es da diesen Krebs gab, dass es ihm immer schlechter ging. Wenn man ihn sah, strotze er nur so vor Tatendrang. Als die Ärzte ihn fragten, ob er noch irgendetwas vorhabe, sagte er: Den nächsten Geburtstag meiner Enkel erleben. Ganz zum Schluss wollte er ein letztes Bier. Seine Tochter brachte es ihm. Fragte ihn, ob er ein Glas möchte. Er schüttelte den Kopf und setzte die Flasche an den Mund.

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