zum Hauptinhalt
Reinhard Wojke

© privat

Nachruf auf Reinhard Wojke: Ruhigstellen. Festschnallen

Er hatte schlimme Erfahrungen in der Psychiatrie gemacht. Und wollte, dass es anderen besser ergeht.

„Ich war ungefähr zwölf Jahre alt und sauer darüber, dass Vater immer nur Schläge austeilte, nie aber Schläge von mir zurückbekam. Mein Bruder war da schon weiter. Also schwor ich mir, des Respekts wegen, dass ich irgendwann zurückschlagen würde“, erinnert sich Reinhard Wojke in seinem autobiografischen Bericht „Der Weg des Herzens und wie meine Psychose mich dabei begleitet hat“.

Dann kam der Tag. Der Vater ohrfeigte ihn. Reinhard schlug zurück. „Mein Vater wurde fahl im Gesicht, und seine Augen wurden unheimlich. Da wusste ich: Was jetzt kommt, überlebe ich nicht! Er griff mir brutal an den Hals und würgte mich, dann wollte er meinen Kopf auf die Treppe schlagen. In diesem Moment geschah etwas Besonderes. Meine Wahrnehmung änderte sich: Ich sah die Erde von ganz weit oben, schoss in den Kosmos hinaus, sah einen Tunnel und ein weißes Licht. Dann vernahm ich eine Stimme, die mir ruhig und bestimmt sagte: Noch ist es nicht so weit!“

Die Mutter war dazwischengetreten, hatte den Vater davon abgebracht, den Sohn zu töten. „Ich schwor mir, über diese Erfahrung mit niemandem ein Wort zu sprechen. Ich schämte mich für so ein Elternhaus. Die Erfahrung, das Licht gesehen zu haben, zeigte mir einen neuen Weg. Und ich fühlte Schutz: Ich kann alles ausprobieren, das Licht behütet mich.“

Aber es konnte zuweilen auch in die Irre führen. Denn die Freiheit schien grenzenlos. Reinhard schlug über die Stränge, was ihn mit 18 geradewegs in die Psychiatrie brachte. Da lag er, im Wachsaal. Ein Dutzend Betten in der Reihe, fünf Reihen insgesamt. Reinhards Unruhe störte den Pfleger. Er holte einen Arzt. Der gab die Spritze. Ruhigstellen. Festschnallen. Ledergurte an Armen und Beinen. Sicherungsfesselung mit einem Beckengürtel. Ein Kommandoton wie auf dem Exerzierplatz. So erlebte er es, so erlebten es viele. „Wer nicht verrückt wird“, sang Hildegard Knef in jenen Jahren, „ist nicht normal.“

„Auch ein psychotischer Mensch braucht seine Kinder“

Was Menschen, die in psychische Not gerieten, von Medizinern angetan wurde, erzählt Dorothea Buck in ihrer Rede „70 Jahre Zwang in deutschen Psychiatrien – erlebt und miterlebt“, die Reinhard Wojke als Video ins Netz stellte. Wer der Psychiatrie nicht entkam, der drohte vollends irre zu werden. Reinhard entkam, holte sein Abitur nach, lernte eine Frau kennen, die er liebte und heiratete, wurde Vater zweier Söhne. Er erlernte den Bäckerberuf, durchlief die Ausbildung zum Physiotherapeuten. Es waren gute Jahre. Aber die Ehe hielt nicht. Es kam zur Scheidung.

„Nun, nach einem Anwaltsbrief habe ich meine Wut zum Ausdruck gebracht und zerlegte meine Wohnung. Ich wurde zwangsweise für drei Tage in die Klinik gebracht.“ Diagnose: schizoaffektive Psychose. Es gibt Medikamente, aber sie wirken nicht immer. Es gibt Therapien, aber sie garantieren keine Heilung.

Reinhard wurde 1993 verrentet und lebte fortan von der Grundsicherung. Das war schwer. Schwer, den Respekt vor sich selbst zu bewahren. Schwer, eine neue Beziehung aufzubauen. Sehr schwer vor allem, eine faire Umgangsregelung mit den Kindern durchzusetzen. „Die Kinder“, bekannte er in einem „Spiegel“-Interview, „waren meine größte Motivation, mich selbst nicht zu verlieren. Schließlich musste ich für sie da sein.“ Und sie wollten für ihn da sein. „Auch ein psychotischer Mensch braucht seine Kinder.“ Aber auch Kinder brauchen Zeit, ein Gefühl für das Anderssein ihres Vaters zu entwickeln.

„Entweder ich ergebe mich der Diagnose, oder ich versuche, mein Leben in die Hand zu nehmen.“ Reinhard erprobte vieles. Er entdeckte den Shintomeister in sich, den Maler, den Musiker, aber vor allem den Aktivisten. „Auf jeden Fall wollte ich solche Zwangsfixierungen, wie ich sie erlebt hatte, für andere verhindern. Mit Psychopharmaka menschliche Konflikte ‚heilen’ zu wollen – das ist doch keine Lösung! Da muss man doch nur auf sein Herz hören!“ Und auf die Geschichten anderer.

Reinhard war ein guter Zuhörer. Wenn er so dasaß, im Karohemd, mit seinem langen Bart, eine Zigarette drehend, geduldig, fasste jeder sofort Vertrauen. Reinhard war keiner, der vorschnell Ratschläge verteilte, denn auch die können Schläge sein, wie er immer wieder betonte.

„Das Ver-rückt-sein beinhaltet die Möglichkeit, sein Leben wieder in den Griff zu bekommen.“ Aber das geht nur gemeinsam. Und nicht auf Kommando. Den Trialog suchen, Angehörige, Betroffene, Helfer, nicht den „Trialüg“, wie er zuweilen bitter scherzte, wenn es ihm nicht schnell genug ging auf dem Reformweg. Beschwerde- und Informationsstellen einrichten. Die psychiatrischen Zwangsmaßnahmen infrage stellen, die Polypharmazie und Hochdosierung diskutieren, die Dauermedikation, die Hoheit der Ärzte. Es finden sich alle Kontroversen fleißig dokumentiert im Netz. Die Arbeit verschlang ihn, er fand kein Maß, konnte nicht mehr schlafen. Der Höhenflug führte geradewegs zur erneuten Bruchlandung in der Psychiatrie. Wer freiwillig in der Klinik ist, kann freiwillig gehen. Das galt nicht im Jahr 2008. Nur dank eines Freundes und anwaltlicher Hilfe gelang es ihm, seinen zwangsverordneten Betreuer wieder loszuwerden.

[Die anderen Texte unserer Nachrufe-Rubrik lesen Sie hier,
weitere Texte des Autors, Gregor Eisenhauer, lesen Sie hier]

Viele Psychiatrie-Erfahrene werden zu Experten in Antidepressiva und Betäubungsmitteln, nicht wenige glauben, sich selbst am besten helfen zu können, aber tatsächlich gelingt die Selbsthilfe nur jedem fünften Erkrankten. Sie wird umso schwerer, je mehr Probleme auf dem Gemüt lasten. Noch dazu Probleme, die so nie vorhersehbar waren. Corona. Da halfen auch Zappa und die Simpsons nicht mehr weiter.

Die Schmerzen im Fuß hinderten ihn an Besuchen, der Bruder starb, die Menschen scheuten zunehmend vor Begegnungen zurück, dabei wartete doch jede Menge Arbeit: „Es gibt noch viel zu tun, wir können nicht ruhen.“

Aber der epidemische Stillstand schien ewig zu dauern. Reinhard verlor seinen Lebensmut. Vielleicht erlag er auch Einflüsterungen, die ihn zum Aufgeben verlockten: Denn wenn die Kraft für dieses Leben nicht reicht, dann vielleicht für ein anderes. Ein letztes Mal führte ihn das Licht in die Irre. „Sterben ist ganz einfach. Nur eine Sekunde, und du bist da im Kosmos, im weißen Licht, spürst Ewigkeit und Frieden … Und dann erwachst du wieder auf der Erde.“ Aber es gab kein Erwachen mehr.

[Wir schreiben regelmäßig über nicht-prominente Berliner, die in jüngster Zeit verstorben sind. Wenn Sie vom Ableben eines Menschen erfahren, über den wir einen Nachruf schreiben sollten, melden Sie sich bitte bei uns: nachrufe@tagesspiegel.de. Wie die Nachrufe entstehen, erfahren Sie hier.]

Zur Startseite