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Reimar Delley (1937-2015)

© privat

Nachruf auf Reimar Delley (Geb. 1937): Außerirdische willkommen!

Wer die Welt verbessern will, darf den Streit nicht scheuen. Also stritt er, unablässig, unermüdlich, hitzig. Keine Kompromisse. Das Leben war ein großer Streit. Der Nachruf auf einen Mann mit Prinzipien

Nicht, dass er zu diesen Verrückten gehört hätte. Aber möglich, dachte er oft, wäre es, jedenfalls nicht auszuschließen, nein, keineswegs auszuschließen: dass auf dem Tempelhofer Flughafen eines Tages Außerirdische landen würden.

Er malte sich aus, was dann geschähe. Ganz Berlin wäre auf der Flucht. Nur er, Reimar Delley, würde erhobenen Hauptes und mit dem freundlichsten Lächeln zum Flugplatz eilen. Er wohnt gleich um die Ecke. Dann stünde er auf dem Rollfeld und breitete die Arme aus: Herzlich willkommen, Außerirdische! Man müsste ihnen einen würdigen Empfang bereiten, fand Reimar Delley. Denn er glaubte nicht, dass sie in böser Absicht kämen. Eher schon, um die Welt zu retten.

Dass die Welt ausgesprochen rettungsbedürftig sei, gehörte zu den unumstößlichen Überzeugungen des Reimar Delley. Umweltverschmutzung und Armut, Ungerechtigkeit, Unfrieden im Nahen Osten – die Welt ist ein zerbrechliches Gebilde, es gäbe viel zu tun für die Außerirdischen. Und, so lange sie noch nicht da sind, auch für ihn, Reimar Delley, Humanist, Pazifist, Menschenfreund.

Wer die Welt verbessern will, darf den Streit nicht scheuen. Auch das war eine seiner unumstößlichen Überzeugungen. Also stritt er, unablässig, unermüdlich, hitzig. Keine Kompromisse. Das Leben war ein großer Streit.

Seltsam nur: Der Streitende war mit niemandem dauerhaft verstritten. Aus dem Streit erwuchs keine Feindschaft. Im Gegenteil, Streit war für ihn die Brücke zu anderen Menschen.

Am Vormittag fing das schon an. Da saß er in seinem Kiezcafé in der Tempelhofer Gontermannstraße, trank den ersten Espresso, dem noch viele folgen sollten, stritt, wenn irgend möglich, seinen ersten Streit schon um zehn Uhr morgens. An Streitgenossen fehlte es nie. Sie setzten sich zu ihm, sie mochten ihn.

Eine bloße Kiezgröße war er nicht. Überall in der Stadt schien er zu Hause zu sein, ein unentwegter Spaziergänger mit seinem Stockschirm in der Hand. Man sah ihn am Potsdamer Platz, seinem Berliner Lieblingsort; er stöberte in den Büchern bei Dussmann; er fachsimpelte mit den Leuten in der „Otherland“ Buchhandlung am Kreuzberger Marheinekeplatz; er beehrte den Comicladen „Modern Graphics“ in der Oranienstraße; er saß im „Knöfi“ in der Bergmannstraße. Und zum Wochenende spielte er Lotto, träumte vom großen Gewinn und versprach allen Freunden, er werde ihn selbstverständlich mit ihnen teilen. „Sozi“ nannten ihn manche. Aber nicht, weil er einer bestimmten Partei anhing, sondern weil er so hilfsbereit zu allen war.

Wenn er nicht durch die Straßen streifte, um Menschen zu finden, dann holte er die Menschen zu sich nach Hause. Obwohl es dort kaum Platz für andere gab. Die wirklichen Insassen seiner Wohnung nämlich waren Bücher, Bücher, Bücher. Und Zeitungen. Und Zeitschriften. Sie standen und lagen in Regalen bis zur Decke, sie besiedelten in Stapeln den Fußboden, sie türmten sich auf Stühlen und auf dem Esstisch, der freigeräumt werden musste, damit Platz für Kaffeetassen war.

Reimar Delley las, was er in die Finger bekam, zehn Bücher gleichzeitig, mindestens. Ein Mann aus Wörtern, eine Welt aus Buchstaben. Deshalb war es bloß selbstverständlich, dass er seit seiner Pensionierung 2001 beim Berliner Büchertisch ehrenamtlich arbeitete und die Buchspenden sortierte. Später wechselte er zur Hilfsorganisation „Laib und Seele“, wo er bei der evangelischen Paulusgemeinde einen Bücherstand für Bedürftige betreute.

Ein lesender Vielfraß, Leichtes und Schweres, Dickes und Dünnes, aber die größte Liebe gehörte den Science- Fiction- und Fantasy-Büchern. Allerliebster Liebling: Perry Rhodan, der Erbe des Universums.

Nach Kriegsende zogen Reimar Delleys Eltern von Berlin nach Bamberg, und der Sohn lernte in der Stadt, die damals viele tausend US-Soldaten beherbergte, eine Welt kennen, die ihn früh faszinierte. Die USA und ihre Kultur prägten ihn für immer. Er liebte Cowboys und Indianer, den singenden Westernhelden Roy Rogers, dessen Frau Dale Evans und sein Pferd Trigger. Amerika, Land der Möglichkeiten. Deshalb hingen in seiner Wohnung Porträts von John F. Kennedy an der Wand und von dessen Frau Jackie. Deshalb lief im Radio unentwegt ein Jazz-Sender. Deshalb reiste er jedes Jahr mindestens zweimal nach New York und stieg, wenn er es sich leisten konnte, im Waldorf Astoria ab.

Wie praktisch, dass Reimar Delley auch im Berufsleben immer wieder mit Reisen zu tun hatte. Als Angestellter der Bundesarbeitsgemeinschaft der Mittel- und Großbetriebe, für die er lange in Köln arbeitete, gehörte es zu seinen Aufgaben, Firmenreisen zu organisieren.

Eines Tages war es sehr ruhig in seiner Wohnung. Auffällig ruhig. Die Nachbarin sah durch den Briefkastenschlitz. Im Flur lag Reimar Delley, Herzinfarkt.

Der Pfarrer zitierte bei der Urnenbeisetzung einen Spruch: „Großer Gott, bewahre mich davor, / vorschnell über einen Menschen zu urteilen, / ehe ich nicht ein Stück des Weges / in seinen Schuhen gegangen bin.“ Natürlich kommt die Weisheit aus Amerika; ein indianischer Sinnspruch.

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