zum Hauptinhalt
Rainer Gräbert

© privat

Nachruf auf Rainer Gräbert: Mit der 135 fing alles an

Mit acht kaufte er sich sein erstes Heft, mit 13 war die „Mosaik“-Sammlung komplett. Bis er endlich seinen Comicladen hatte, vergingen noch ein paar Jahre.

Es entschied sich. Dass er sich entschieden hätte, wäre wohl zu viel gesagt. Denn Schlosser zu werden, stand mit 16 als Berufswunsch nicht ganz oben auf der Liste seiner Träume. Aber so war das in der DDR: Wurde man nach der zehnten Klasse nicht an eine weiterführende Schule delegiert, um das Abitur abzulegen, machte man eben eine Ausbildung. Oft irgendeine, was eben so im Angebot war. Sich ein wenig umzuschauen, eine Weile im Vorläufigen, in einem unentschiedenen Zustand zu bleiben, hätte als Bummelei und Schlendrian gegolten. Der sozialistische Mensch war doch kein unentschiedener!

Rainer hatte Interessen, daran lag es nicht. Er las für sein Leben gern, Abenteuerromane, Hinaus-in-die-Welt-Literatur, Karl May, Jules Verne. Und Comics. Also die, die man in der DDR kriegen konnte, „Frösi“ (abgeleitet von „Fröhlich sein und singen“, der Anfangszeile eines Pionierliedes), „Atze“ und natürlich das „Mosaik“. Vor allem das „Mosaik“ mochte er, seine ersten drei Helden, die Digedags und ebenso ihre Nachfolger, die Abrafaxe.

Aber das „Mosaik“ war Bückware. Wenige Glückliche, zu denen Rainer nicht zählte, besaßen ein Abonnement, die anderen rannten von Kiosk zu Kiosk, um irgendwo ein Exemplar zu erbeuten. Der Mangel befeuerte das Begehren. Die Leerausgegangenen konnten nur darauf hoffen, sich das Heft bei den Glücklicheren auszuleihen. Oder sie begannen zu tauschen, eine Nummer, die sie doppelt hatten, gegen die fehlende.

300 Mark für ein Heft!

Sein erstes Heft, die Nummer 135, kaufte Rainer sich mit acht. Mit 13 war seine Sammlung komplett, inklusive der exklusiven Nummer 1, erschienen am 23. Dezember 1955, die man schon zu seiner Zeit kaum mehr finden konnte. Aber die Sammlung ging verloren, warum, ist nicht überliefert. Jahre später vermachte sein Bruder ihm die eigene Kollektion, allerdings wies sie empfindliche Lücken auf.

Erneut ergriff Rainer der Jagdtrieb. Er suchte nach Inseraten, inserierte selbst. Und war baff: Da suchte jemand die Nummer eins und bot tatsächlich 50 Mark! Dabei hatte sie ursprünglich nicht mal eine gekostet. Andere boten noch mehr, 200, 300 Mark. Die Nachfrage animierte ihn, Unmengen von Heften zu kaufen, die er dann auf Volksfesten und Trödelmärkten, von denen es in den 80er Jahren immer mehr gab, verkaufte. Die Sache war lukrativ, er nahm andere Comic-Reihen, Romanhefte und Bücher ins Sortiment.

Das Vorläufige, der unentschiedene Zustand hinsichtlich seines beruflichen Werdens verflüchtigte sich, ein Ziel formte sich immer deutlicher: ein eigenes Buchantiquariat. „Mit diesem Wunsch“, erzählte er später, „biss ich allerdings beim Rat des Stadtbezirks auf Granit.“ Also verharrte er in der Zeitweiligkeit, im Behelfsmäßigen, arbeitete mal als Möbelmonteur und wusste, dass es immer auch etwas ganz anderes sein konnte.

Doch nur wenige Monate nach seiner unergiebigen Unterredung mit den zuständigen Bürokraten fiel die Mauer. „Plötzlich erschien ein Buchantiquariat als real. Aber im Westen gab es bestimmt schon 100, im Osten auch einige. Das ist dann vielleicht doch so keine gute Idee, dachte ich. Aber Comicläden gab es nur wenige, und die alle im Westen.“ Also los!

Zusammen mit Manuela, seiner Frau, begann er nach Räumen zu suchen. Es gab ja jede Menge Leerstand. Die Läden jedoch gehörten noch den Handelsunternehmen HO und Konsum, und die weigerten sich, ihre verwaisten Geschäfte zu vermieten. Also verkaufte er auf Wochen- und Trödelmärkten und betrieb einen Stand in der Markthalle, schräg gegenüber vom Alexanderplatz.

Bis er in Friedrichshain, in der Kochhannstraße doch fündig wurde: „Das war eine Bruchbude, die musste erst ausgebaut werden. Am 21. Januar 1991 war es endlich soweit, wir konnten den Laden eröffnen.“ Als das Haus vier Jahre später saniert wurde, zogen sie um in die Ebertystraße 22, gleich um die Ecke. Und dort blieb er, bis heute, der „Roman- und Comicladen“.

[Die anderen Texte unserer Nachrufe-Rubrik lesen Sie hier,
weitere Texte der Autorin, Tatjana Wulfert, lesen Sie hier]

Das Angebot: Alle Comics, die in Deutschland offiziell erhältlich sind, nagelneue, gebrauchte, rare, stets verfügbare. Mangas. Graphic Novels zu fast jedem Thema: Mauerfall, Krankheit, Stalin, die Ilias, Sherlock Holmes, Pubertät, Proust, China. Dazu Romanhefte im A5-Format, die oft von der Liebe scheuer Schwestern zu virilen Oberärzten handeln, und auch ganz normale Bücher, obwohl die wegen Platzmangels im Lauf der Zeit aus seinen Regalen verschwanden. „Wenn ich etwas nicht habe“, sagte Rainer, „dann versuche ich es aufzutreiben.“ Er baute mit Manuela den Versand- und Internethandel aus, gemeinsam fuhren sie auf Messen und Börsen, und im Laden wechselten sie sich ab.

Die Ebertystraße ist keine Einkaufsstraße. Wer bei ihnen reinschaute, war nicht zufällig vorbeigekommen. Die treue Stammkundschaft besteht vor allem aus „Mosaik“-Lesern und -Sammlern, fast nur Männer, bei denen sich der einstige Mangel in ein bleibendes Begehren gewandelt hatte. Im Laden trafen sie sich, erörterten Preise, diskutierten den Zustand alter Hefte, die Qualität neuer Ausgaben. Kamen zum „Gratis Comic-Tag“, zu den Adventsfesten, zu Lesungen. Am 21. Januar 2021 sollte es ein Fest geben, zum 30. Jubiläum. „Ob das unter Corona-Bedingungen was wird, wissen wir noch nicht“, sagte Rainer im Frühling.

Kurz danach erhielt er die Diagnose. Kurz nach der Diagnose starb er.

Das Geschäft schloss. Manuela dachte nach: Zumachen oder Weitermachen? Nach sieben Wochen öffnete sie wieder. „Rainer ist dabei“, sagt sie, „hier oben und hier auch“, und zeigte auf ihren Kopf und auf ihr Herz.

[Wir schreiben regelmäßig über nicht-prominente Berliner, die in jüngster Zeit verstorben sind. Wenn Sie vom Ableben eines Menschen erfahren, über den wir einen Nachruf schreiben sollten, melden Sie sich bitte bei uns: nachrufe@tagesspiegel.de. Wie die Nachrufe entstehen, erfahren Sie hier.]

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false