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Norbert Giesen (1950-2019)

© privat

Nachruf auf Norbert Giesen (* 2. Juli 1950): Man müsste, man müsste … Nein! Wir machen!

Alte Geschichten gibt es viele. Er will neue schaffen, zusammen, ein Leben lang. Kein Konjunktiv, ein Imperativ

„Wir müssen jetzt was machen!“ Die anderen aus der Paulus-Gemeinde Tempelhof straffen sich, auf der Stelle. Sie wissen, in diesem müssen fehlt kein Konjunktiv-T, Möglichkeitsfloskeln kommen bei Norbert nicht vor. Und dann fügt er den gänzlich unüberraschenden Folgesatz auch sofort hinzu: „Nächste Woche treffen wir uns.“

Nächste Woche also, ein Aufschub kommt nicht infrage, denn die Verhältnisse sind nicht hinnehmbar. Die Verhältnisse vorm „Lageso“, dem Landesamt für Gesundheit und Soziales. Immer mehr Menschen aus Syrien, aus Afghanistan harren vor dem Gebäude in der Turmstraße aus. Es regnet, es ist kalt, es mangelt an allem.

Die Woche ist schnell rum, Norbert hat sich etwas überlegt, er trägt seine Ideen vor, alle machen sich sofort daran, den Plan umzusetzen. Erster Schritt: Sie räumen einen Gemeinderaum leer. Das geht zügig. Nächster Schritt: Zehn Feldbetten aufstellen. Was schon weniger zügig geht. In ganz Berlin scheint es kein einziges mehr zu geben. Norbert nutzt, nicht zum letzten Mal, seine weitverzweigten Kontakte. Bis die zehn Betten stehen. Dann: Bettzeug. Dann: Installation einer Dusche im Nebenraum. Dann: gemeinsam mit einem Übersetzer in einen Kleinbus und los zum „Lageso“, um von dort Bedürftige in die neue Unterkunft abzuholen. Einige kochen inzwischen, andere machen sich bereit, ihre Waschmaschinen zu füllen.

Zehn Menschen steigen in den Bus und fahren in das Tempelhofer Vorgartenidyll. Sie waschen sich, wechseln die Wäsche, essen und schlafen endlich, in einem sauberen, warmen Bett. Am nächsten Morgen stehen alle um fünf auf, die Geflüchteten, die Helfer, denn um sechs öffnet das Amt wieder, nur nicht zu spät ankommen, aus den ewigen Wartestunden ein paar weniger machen. Am Abend zurück in die Paulus-Gemeinde.

Einige Zeit darauf werden die Hangars des Flugfeldes belegt. Norbert schaut sich das an: mit Stoff abgetrennte enge Bereiche, in denen jeweils vier Dreistockbetten stehen. „Wir müssen was machen!“ Und es geht weiter. Eine afghanische Frauengruppe mit Kindern braucht Hilfe. Deutschunterricht muss organisiert werden. Praxisorientierter Deutschunterricht. „Plusquamperfekt“, sagt Norbert und zieht verächtlich die Augenbrauen in die Höhe, „das beherrschen ja nicht mal die Deutschen.“ Man muss den Leuten zeigen, wie hierzulande Ausbildungen funktionieren. Wie man sein Kind in der Schule anmeldet. Wie man Anträge korrekt ausfüllt. All die bürokratischen Hürden, an denen schon Muttersprachler verzweifeln. Wie kommt man an eine Wohnung? Schwierig. Norbert hat Kontakte zu Wohnungsbaugesellschaften und lässt die Leute dort nicht in Ruhe. Bis es klappt, bis er insgesamt neun Familien unterbringen kann.

Norbert kennt Hinz und Kunz, und wenn er Hinz mal einen Gefallen getan oder Kunz aus der Patsche geholfen hat, dann erinnert er sie eben jetzt daran, es geht hier schließlich nicht um ihn.

Er redet nicht lange

Sein Netz hat er in Jahrzehnten aufgebaut. Am Beginn stand eine Lehre zum Starkstromelektriker, am Ende der Titel Studienrat. Dazwischen lagen das Abi auf der Abendschule, Arbeit, das Elektrotechnikstudium, der Dipl. Ing., 40 Jahre SPD, die drohende Schließung der Siemens-Berufsschule, an der er lehrte und einen neuen dualen Ausbildungszweig entwickelte, weshalb sie dann doch nicht zugemacht wurde.

Man müsste, man müsste ... Nein! Wir machen! Diese Selbstverständlichkeit. Christoph, sein Sohn, ruft aus München an, die Autobatterie ist leer, er braucht Starthilfe. Aber wie geht das genau? Norbert redet nicht lange, er fährt die 700 Kilometer runter nach Bayern und hilft. Oder Roland, sein zweiter Sohn. Es gibt diesen Schrank in seiner Freiburger Wohnung. Der Schrank hängt irgendwie schief und schwankend an der Wand. So geht das nicht, sagt Norbert am Telefon, und Roland kann seinen Vater nur mit allerlei Zureden davon abhalten, seinen Gebirgsurlaub abzubrechen, um die Sache vor Ort selbst in die Hand zu nehmen.

Und Erika, seine Frau? Sie macht mit. Zuerst tanzt sie mit ihm hinein in den Mai. Ihre Klasse ist auf Abifahrt, und diese eine Nacht ist der Auftakt für ein ganzes Berliner Familienleben. Sie tauschen die Telefonnummern, er fährt zu ihr und sie zu ihm, sie laufen den Rhein entlang und den Landwehrkanal, sie erzählen sich ihre Geschichten. Erika hört von Norberts Vater, der Leiter der Potsdamer Friedhöfe war. Von seinem jüdischen Großvater, der nach Auschwitz deportiert wurde, von seiner Mutter, die sich rechtzeitig verstecken konnte und überlebte. Von den Problemen, die die Familie in der DDR bekam: Der Vater, der Kirchengesangsbücher kaufte und von den Genossen der Verschwendung von Staatsgeldern beschuldigt wurde. Die Mutter, die seiner Schwester Dagmar zu offiziellen Feierlichkeiten zwar ein hübsches Kleid anzog, auf das blaue Pioniertuch aber verzichtete und solche Sätze sagte: „Wenn ich blau sehe, sehe ich rot.“ Er erzählte, wie sie 1958 einer Bekannten, die S-Bahn-Fahrerin war, immer wieder Bündel von Sachen übergaben, die diese heimlich in den Westen schaffte. Wie sie dann alle zusammen rüber sind und bei Freunden unterkamen, wo Norbert zum ersten Mal einen Fernseher und einen Kühlschrank sah. Wie sie sich nach und nach in dieser anderen Welt einrichteten.

Sie erzählen sich ihre vergangenen Geschichten, Norbert und Erika, sie wissen, sie wollen neue schaffen, zusammen, ein Leben lang. Kein Konjunktiv, ein Imperativ. Bis die Katastrophe kommt, der Krebs, der sein eigenes Ausrufezeichen setzt. Erika bringt Norbert einen Computer ins Krankenhaus. Er kümmert sich um einen jungen Afghanen, organisiert ihm eine Lehrstelle. Er gibt Erika seinen Ehering und sagt: „Es war eine schöne, lange Zeit.“

Die Onkologin stellt ihm die Frage: „Was wollen sie in Ihrem nächsten Leben machen?“ Seine Antwort, bestimmt und unbedingt, wie man es kennt von ihm, und dennoch überraschend: „Philosoph“.

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