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Ev. Französischer Friedhof III in der Wollankstrasse in Wedding.

© Doris Spiekermann-Klaa

Nachruf auf Niels Li Cremer (Geb. 1947): Ein Geheuer, das Gegenteil eines Ungeheuers

Gut, er hatte eine Art von Auto. Gut, er hatte ein Haus, irgendwie. Aber Auto, Haus, Job - das waren nicht die Kategorien seines Lebens. Der Nachruf auf einen, der das Abenteuer liebte

An Niels musste man sich erst gewöhnen. Mit ihm in der Öffentlichkeit unterwegs sein, das konnte zum peinlichen Abenteuer werden. Seine Tochter Leah zum Beispiel hat Flugangst. Einmal, als sie zusammen nach Griechenland fliegen wollten, machte er am Flughafen mitten in der Wartehalle die Musik an, „Let her go“ von Passenger, und fing an zu tanzen. Ein Papa-Tanz gegen die Angst. Das war so mega-peinlich, dass ihr nichts blieb als mitzumachen.

Oder mit ihm einkaufen. Man wusste nie, wen er als nächstes anquatschen würde. Da war der Mann im Rollstuhl, dessen Beine amputiert waren. Niels sieht ihn und fragt: „Was ist denn mit denen passiert?“ Er konnte das einfach: hingehen, losreden und die Leute, ob Taxifahrer oder Banker, mit seiner Offenheit und seiner Energie überrumpeln und gewinnen.

Als Lisa ihn das erste Mal sah, mochte sie ihn überhaupt nicht. Das war in einer Strandkneipe auf Gomera im Dezember ’87. Da saß er wie immer zwischen den Leuten und sprühte alle mit seiner Energie an. „Was für ein Gockel und Aufschneider“, dachte Lisa. Ein paar Tage später trafen sie sich wieder auf einer Party. Um sie herum das Getöse, sie spielten Backgammon, eine Runde nach der anderen. Dann liefen sie an den Strand, redeten und redeten. Die Sonne ging unter und wieder auf, sie waren immer noch zusammen und seither nie wieder so richtig auseinander.

Sie war damals 21, er knapp 40. Sie hatte gerade ihr Abitur gemacht, Niels wollte seins auf der Abendschule nachholen. Stand auch schon kurz vor den Prüfungen, doch dann zerstritt er sich mit dem Deutschlehrer. Wenn ihm etwas gegen den Strich ging, rebellierte er, schmiss alles um, ließ sich von niemandem davon abbringen.

CD rein, Regler laut und mitsingen. Manu Chao rauf und runter

Lisa kam aus Wien, Niels aus Berlin. Sie liebte ihre Eltern. Er hatte sich mit seinen überworfen. Sein Vater war Dachdecker, autoritär bis zur Prügelstrafe. Eigentlich war Niels nicht so richtig gewollt. Sie hatten ja schon einen Sohn, ein Mädchen wäre jetzt gut gewesen. Ganz am Ende, kurz bevor sein Vater starb, haben die beiden sich noch ausgesprochen. Der Vater konnte zugeben, dass seine Strenge falsch gewesen war.

Niels und Lisa hatten nur ein paar Tage miteinander, damals auf Gomera. Doch etwas zog sie an. Niels war so – speziell. Fast doppelt so alt wie sie, hatte er es sich nie gemütlich gemacht, war alles andere als fertig. Auto, Haus, Job, Familie, das waren nicht die Kategorien seines Lebens.

Gut, er hatte ein Auto, das er liebte, eine kleine rote Ente. Später fuhr er mit Tochter Leah damit durch die Gegend, CD rein, Regler laut und mitsingen. Manu Chao rauf und runter.

Gut, er hatte auch ein Haus. Ein ganz großes in der Adalbertstraße, direkt am Kottbusser Tor. Das hatten er und seine Freunde besetzt, Anfang der 80er. Über die Mauer geklettert, im Hinterhof die Tür aufgebrochen und rein. Sie hielten Nachtwache, verbarrikadierten die Eingänge und Fenster. Zuerst funktionierte nur eine Küche, dort versammelten sie sich, kochten und tranken den bitteren Nicaragua-Solidaritäts-Kaffee. Niels konnte bauen, Dinge vom Sperrmüll nach oben schleppen, sie reparieren. Seine Einbauküche steht immer noch da. Die gefundenen Tische und Sessel auch. Gegenstände sammeln, damit hörte er eigentlich nie auf. Wenn er auf der Landstraße was Brauchbares sah, bremste er scharf und lud es in die Ente. Einmal sammelte er lauter Schrott vom Strand ein, um für Lisa daraus eine Skulptur zu machen: ein Geheuer, Gegenteil eines Ungeheuers.

Er war nicht immer auf den Barrikaden

Niels war ein politischer Mensch, sehr links, versteht sich, für die Rechte von Flüchtlingen, Häuser sollten für die Menschen sein, die darin wohnten. Er war immer vorn dabei, er agitierte wie kein Zweiter, erklärte die kompliziertesten Zusammenhänge einfach, las jeden Tag zwei Zeitungen, „Völkermord zum Frühstück“, wie er das nannte. Diskutierte, organisierte, machte Wandzeitungen, schrieb und malte.

Wenn er Geld brauchte, jobbte er auf dem Bau, in einer Buchhandlung, in der Schultheiß-Brauerei, als Lkw-Fahrer, für eine Gärtnerei, als Umzugshelfer. Bei einem Umzug von Klaus Kinski hat er mitgemacht: „Zu uns war der nett, es gab Käffchen und Zigaretten.“

Niels war nicht immer auf den Barrikaden. Er hatte es probiert mit dem bürgerlichen Leben, war bei der Bundeswehr gewesen, hatte mit 21 eine Familie gegründet, eine erste Tochter bekommen und Versicherungen verkauft. Da starb etwas in ihm ab, und er wollte doch am Leben bleiben. Er ließ alle zurück und stürzte sich ins Abenteuer. Dass er Frau und Kind ohne Hilfe alleine ließ, das hat er später sehr bereut.

Nach der Nacht am Strand und den Tagen auf Gomera ging Niels zurück nach Berlin und Lisa nach Wien. Niels schrieb die schönsten Briefe, sendete Postkarten-Collagen, rief an, besuchte sie. Lange Wiener Nächte, Ausflüge auf den Naschmarkt, Vorstellungsrunde bei ihren Eltern, die selbstredend nicht begeistert waren. Erst recht nicht, als sie nach Berlin in sein Haus zog.

Schließlich wollte Niels doch noch etwas Richtiges machen und wurde Sozialarbeiter. Den Jugendlichen in der betreuten WG half er auf seine sehr eigene Art. Mancher würde sie vielleicht distanzlos oder unprofessionell nennen, doch Niels fand zu jedem einen Zugang, ob zum magersüchtigen Mädchen oder zum Macho-Kerl. Sie waren ihm wichtig, und das merkten sie. Lief er durch Kreuzberg, traf er oft auf Ehemalige, längst erwachsen, längst mit eigenem Leben. Sie tranken mit ihm einen Kaffee und ließen ihn ihre Dankbarkeit spüren.

„Warum ist Papa immer draußen?“

Lisa und Niels machten die schönsten Reisen. Sie fühlte sich wohl bei ihm, aufgehoben, der Alltag ließ sich leicht leben. Als Leah auf die Welt kam, war sie genau die, die noch gefehlt hatte. Jeden Abend erzählte er ihr die Geschichte von der Aprikose. Die hatte er erfunden und dann immer weiter gesponnen.

Niels konnte Launen haben, das wusste jeder, dann ging man ihm halt aus dem Weg. Es stimmt schon, dass sie stärker waren als bei anderen, dass sie auch etwas länger dauerten, dass er manchmal sogar richtig krank wurde, nicht mehr zur Arbeit konnte. Das war die andere Seite dieses Mannes mit der großen Energie. Doch noch war alles nicht so schlimm, noch konnten sie sich ein Haus im Havelland kaufen. Hier baute er und machte alles schön, stellte den Garten mit seinen Skulpturen voll, hängte Schilder auf. Am Eingang: „Vorsicht, pissiger Hund“. Im Bad: „Nie wieder duschen“. Es gab Lagerfeuer, Spaziergänge, Feiern und Bootstouren. Niels hatte sich sein Paradies erschaffen, in das er sich zurückzog, wenn es nicht mehr ging.

Seine depressiven Phasen wurden länger, dauerten Tage, Wochen, Monate. Dann lag er nur noch da und konnte nicht arbeiten, nicht reden, nicht aufstehen. Es ging ins Krankenhaus, auf die psychiatrische Station, ihm wurde eine bipolare Störung diagnostiziert. Die üblichen Tabletten vertrug er nicht. Er hatte sie alle probiert.

„Warum ist Papa immer draußen?“, fragte Leah. Sie vermisste ihn, doch für die Familie war es in diesen Phasen besser, wenn er nicht da war. Niels versuchte, sich durch die schlimmsten Zeiten durchzutrinken. Wankend, stammelnd, so sah Leah ihn. Sie war wütend und enttäuscht. Ihr Vater, das war doch ihr Held. Vor neun Jahren sagte Lisa zu ihm: „Niels, in aller Liebe, ich mach das nicht mehr mit.“ Und Niels ging in die Klinik, trank nie wieder einen Tropfen.

Zu seinem 70. Geburtstag organisierte Leah einen alten Citroën DS 21 mit Hydraulikfederung. Den hatte er sich immer gewünscht. Zusammen fuhren sie durch die Stadt und sangen die alten Lieder. „Ich hab dich lieb“, sagte sie zu ihm. „Ich habe dich auch lieb“, sagte er zu ihr.

Mit Lisa verbrachte Niels noch drei letzte klare Wochenenden, mit Frühstück im Bett, mit Kochen, mit Gesprächen. Dann starb er. Im November 2017. Für alle völlig überraschend.

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