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Michaela Müller

© privat

Nachruf auf Michaela Müller: Das Herz macht den Menschen aus...

Denn der Geist kann einem die wahnwitzigsten Sachen vorgaukeln.

Endlich raus, ab in die Freiheit, in die USA. Lebewohl Berlin, Tschüss Mama. Sie braucht Mut für den großen Sprung, so wie sie früher Mut brauchte, als sie segeln ging auf dem Wannsee oder der Havel, wo die Windwechsel jäh und die Ausflugsdampfer zahlreich waren. Immer bereit sein, schnell entscheiden, auch wenn das Herz kurz erschrickt. Jahre später schrieb sie aber, dass es eben dieses Herz ist, dass den Menschen ausmacht und nicht der Geist und nicht der Kopf, der erkranken kann und einem die wahnwitzigsten Sachen vorgaukelt.

Es war die Philosophie, die sie liebte und die sie nach Arizona an die Universität brachte. 2001 war das, sie war 27. Promovieren wollte sie hier, hatte eins der begehrten Vollstipendien erhalten, ihr Verstand und ihre Vernunft waren gefragt. Und sie war gut darin, Glaubenssätze zu hinterfragen, Sachverhalte zu durchdringen, sich mit der Erkenntnistheorie auseinanderzusetzen. Sechs Jahre blieb sie, forschte, lehrte, diskutierte.

Sie hatte Freunde, wurde geschätzt. Sie sprach auf den Punkt und sprach nur dann, wenn sie auch was zu sprechen hatte. Wenn sie lachte, dann so herzlich, dass die anderen mitlachen mussten. Wenn sie jemanden auf die Schippe nahm, dann vor allem sich selbst. Doch irgendwann, zwischendurch und ohne eine Erklärung, veränderte sich ihre Wahrnehmung. Sie sah ihre Umwelt anders, fühlte sich bedroht, entwickelte eine große Angst. Alles und jeder schien auf einmal gegen sie zu sein. Diagnose: Schizophrenie.

Ein anderes Leben kann sie sich nicht vorstellen

Schizophrenie sei eine Erkrankung des Ichs, des Kerns der Person, so sagte es ein Arzt ihr einmal. Eine Einschätzung, die sie nicht akzeptieren konnte, im Gegenteil: „Ich habe die Erfahrung gemacht, dass auch wenn das Gehirn völlig verwirrt ist, das Herz immer noch als Kern der Person unbeschadet bleibt.“

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Michaela hält durch. Sie liebt die Wissenschaft; ein anderes Leben kann sie sich nicht vorstellen. Sie will weiter vor den Studierenden stehen, diskutieren, am Schreibtisch sitzen und Bücher schreiben. 312 Seiten umfasst ihre Doktorarbeit, die sie 2007 abgibt. Ein letzter Kraftakt.

Weiter geht es nicht, die Kollegen, die Wissenschaft, geheime Kräfte scheinen sich gegen sie verschworen zu haben. Sie kehrt nach Berlin zurück, ohne Plan B, ohne Geld. Dafür mit einer Psychose, die immer schlimmer wird. Wie soll es weitergehen? In einem Vortrag beschreibt sie später diese Situation: „2007, Berlin, sozialer Nullpunkt, Armut, Arbeitslosigkeit, Einsamkeit, gefühlte Perspektivlosigkeit und kein richtiges Zuhause.“

Glück im Unglück

Michaela muss in ein Krankenhaus. Das ist ihr Glück im Unglück, denn hier geschieht ein Wandel, eine Verschiebung. Die Psychologen sprechen mit ihr auf eine positive Art und Weise. Sie sehen ihr in die Augen, Michaela fühlt sich nicht mehr verurteilt, sondern akzeptiert. Sie beginnt, mit anderen Patienten zu sprechen, hört ihnen zu und gibt ihnen Tipps. Sie stellt fest, dass ihr das Spaß macht. Sie will jetzt anderen helfen, die ähnliche Erfahrungen wie sie gemacht haben.

Sie macht einen Plan. Als erstes braucht sie eine eigene Wohnung, die sie schön herrichten kann mit ihren Büchern, mit Pflanzen. Dieser Ort soll heilig sein, Geborgenheit spenden. Dann verwaltet sie ihr Budget besser, um sich das Fitnessstudio leisten zu können. Bewegung, Auspowern, das ist so wichtig für sie. Schließlich sucht sie sich Wanderstrecken in der Nähe, um möglichst viel in der Natur zu sein. Und sie beginnt eine Ausbildung als „Genesungsbegleiterin“: Menschen, die selbst an einer psychischen Krankheit leiden, helfen anderen durch diese schwere Zeit.

Man ist begeistert von Michaela. Sie bekommt eine Stelle, 20 Stunden pro Woche in einem Hostel für Suchtkranke, das sie vor der Obdachlosigkeit bewahrt. Ihre Kollegen sind Sozialarbeiter und Psychologen, sie ist die einzige Betroffene. Bei den anderen heißt es: Aha, das ist also die Diagnose, dann müssen wir dies machen, der Klient müsste so und so reagieren. Es ist mehr ein Reden über als ein Reden mit. Michaela sagt: Lasst uns uns nicht auf die Diagnose konzentrieren, sondern eine Perspektive finden, wie das Leben schön sein kann.

[Die anderen Texte unserer Nachrufe-Rubrik lesen Sie hier,
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Damit das funktioniert und sie nebenher noch die Kraft für einen Master in Klinischer Sozialarbeit hat, muss sie sich selbst beobachten. Was tut ihr gut, was nicht? Wie muss der Alltag aussehen? Sport, kein Alkohol, genug Schlaf. Ihren Arbeitstag beginnt sie um elf, nicht früher. Zwei, höchstens drei Stunden sitzt sie vorm Bildschirm, dann Spaziergänge, auf denen sie mit Kollegen spricht oder über Texte nachdenkt. Wenn sie spürt, dass sich ihre Wahrnehmung verändert, dass sie droht abzurutschen, schreibt sie ihrer Chefin eine Mail, bleibt für ein paar Tage zu Hause und geht noch mehr spazieren, bis es ihr wieder gut geht.

Es dauert etwas, bis Michaela sich öffnet, doch dann ist sie eine gute Freundin, schreibt aus dem Urlaub, ruft an, verabredet sich zu einem ihrer Spaziergänge, viele Stunden im Wald, am See, am Fluss entlang. Dann spricht sie übers Segeln, belächelt die Anfänger in ihren Jollen auf dem Wannsee und nimmt sich vor, im nächsten Sommer mal ein Segelboot auszuleihen. Nach dem Spaziergang gibt es Kuchen und Kaffee, das ist das Ritual.

Svenja Bunt gibt es auch noch, so nennt Michaela ihr öffentliches Ich. Svenja hat einen Blog, schreibt Artikel für Fachzeitschriften und Fachbücher, eins darüber, wie man als Psychiatrieerfahrene ein gutes Leben führen kann, außerdem Krimis und Liebesgeschichten. Sie redet auf Kongressen, diskutiert mit den Ärzten. Michaela und Svenja, die beiden bauen sich ein gutes, aktives Leben auf – so könnte man meinen.

Dann kommt Corona, und alles bricht weg. Fitness, Arbeit, Freunde, selbst Kaffee und Kuchen am Ende der Wanderung. Alles mühsam Aufgebaute, alle Stabilitätsanker, einfach fort, im Lockdown. Dabei klingt sie beim Telefonat mit der Mutter und der besten Freundin noch so gut. Ihr letzter Blogbeitrag liest sich vorsichtig optimistisch. „Wir können es uns nicht erklären“, sagen sie bei der Arbeit. „Vielleicht war ihr Korsett am Ende doch zu eng“, sagt eine Freundin. Am 8. Juni hat Michaela Müller sich das Leben genommen. Mit ihr ging auch Svenja Bunt.

Wenn es Ihnen nicht gut geht und Sie sich mit Suizidgedanken tragen: Der Berliner Krisendienst hilft kostenlos und rund um die Uhr. Telefon: 030 / 3906310

[Wir schreiben regelmäßig über nicht-prominente Berliner, die in jüngster Zeit verstorben sind. Wenn Sie vom Ableben eines Menschen erfahren, über den wir einen Nachruf schreiben sollten, melden Sie sich bitte bei uns: nachrufe@tagesspiegel.de. Wie die Nachrufe entstehen, erfahren Sie hier.]

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