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Nachruf auf Michael Wend (1940-2020): Ein fester Rahmen, in dem sich die Dinge bewegen

* am 26. Juli 1940.

Gottlob gab es diesen festen Rahmen: einen Raum mit vier Wänden. Dieser Rahmen schien all die Papiere, die Schriftstücke, die Zeichnungen halbwegs zusammenzuhalten. Der Raum, ein Büro. Das Büro, in der Württembergischen Straße, in der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung, Referat Stadterneuerung und Modernisierung. Darin drei Schreibtische: für eine Zeichnerin, für einen Stadtplaner und für einen Architekten, Michael. Ein weiterer Tisch ohne Stühle. Unter ihm überfüllte Kartons. Auf den Kartons rote, grüne, blaue Mappen. Auf dem Boden wieder Kartons. In einem Schrank, gleich einem Mikadostapel, aus dem auf keinen Fall ein Stab gezogen werden darf, Zeichenrollen. Auf den Tischen der Zeichnerin und des Stadtplaners ein wenig Papier. Auf Michaels Türme von Akten. Hinter den Akten sein Kopf. Brille auf der Stirn.

Ab und an fordert ein Vorgesetzter, Ordnung in dieses Wirrwarr, das Michaels Werk ist, zu bringen. Aber Michael wehrt sich jedes Mal erfolgreich, bis zur Pensionierung, denn es gibt da eine Ordnung, für den Eingeweihten jedenfalls. Er findet alles, immer, sofort.

Ein fester Rahmen, der unbeweglich bleibt, in dem sich jedoch die Dinge bewegen.

Michaels Vater war Staatsanwalt am Dresdner Landgericht und in seinem Auftreten eher autoritär – vor allem seinem Erstgeborenen, Michael, gegenüber. Der Vater liebte den Sohn, das war es nicht. Doch hatte er diese Altvorderenvorstellung, der Erstgeborene müsse in besonderem Maße Leistungen erbringen. Was zu Spannungen führte und zu Streit. Michael konnte und wollte die Erwartungen, angefangen bei herausragenden Schulnoten, nicht erfüllen. Entwickelte aber zugleich diesen lebenslangen Ehrgeiz, seinem Vater zu beweisen: Ich kann doch etwas.

Worin das nächste Problem lag. Der Vater war krank, kämpfte mit Tuberkulose. Die Konfrontation mit einem Geschwächten, der eigentlich geschont werden soll, erwies sich als noch einmal vertrackter.

Junge Architekten haben hochfliegende Pläne

Inzwischen war die Familie, Michael hatte eine Schwester und einen Bruder bekommen, von Dresden nach Gaienhofen am Bodensee gezogen. Der gesundheitliche Zustand des Vaters wurde schlechter, seine Leber entzündete sich. 1958, als Michael 18 Jahre war, starb er.

Was Michaels Problem unlösbar machte. Wie sollte er seinem Vater jetzt noch zeigen, was er konnte?

Zunächst war da der Schmerz über den Verlust. Ein Schmerz, der sich körperlich zeigte, als würde er die Krankheit des Vaters imitieren. Michaels eigene Leber entzündete sich. Die Genesung dauerte ein Jahr. Ein ganzes Jahr versäumter Unterricht.

Umso dringlicher dann der Wunsch, etwas Sichtbares, vielleicht sogar Bedeutsames zu schaffen, etwas, das den Vater zufrieden gestellt hätte. Es ließ Michael nicht los.

Etwas Sichtbares also. Häuser! Michael ging nach Berlin und studierte Architektur.

Die meisten jungen Architekten haben hochfliegende Pläne. Sie entwerfen tage- und nächtelang visionäre Gebäude, sie fertigen detailreiche Modelle, sie träumen davon, dass ihre Ideen in Stein und Stahl und Glas vor aller Augen Wirklichkeit werden. Dann gelangen sie in die Niederungen des Alltags, die Entwürfe erweisen sich als doch nicht so visionär, die Modelle verstauben in Abstellkammern. Sie sitzen mit Kollegen in einem Büro und zeichnen das, was sich andere Kollegen ausgedacht haben. Oder sie begleiten den Bau eines Einfamilienhauses in der Vorstadt.

Warum also nicht das Zeichnen aufgeben? Nur noch planen, im großen Maßstab. Michael begann, für den Senat zu arbeiten. Leitete Vorhaben, brachliegende Flächen und Gebäude in soziale und kulturelle Projekte umzuwandeln. Zum Beispiel in Oberschöneweide. Ein Industriegebiet, das nach der Wende verkam. Städtebauliche und soziale Ziele sollten, wie in allen Konzepten, die Michael entwickelte, miteinander verbunden werden. In diesem Punkt war er immer ausgesprochen hartnäckig: Die Stadt muss für alle, nicht nur jene, die es sich leisten können, lebenswert sein. Da war er ganz und gar Sozialdemokrat. Rang mit Entscheidungsträgern, verhandelte mit den Eigentümern, brachte die Fachleute zusammen, nahm Einfluss auf die Architekten. Die Hochschule für Technik und Wirtschaft zog nach Oberschöneweide, Studenten kamen, es entstanden günstige Ateliers, kulturelle Angebote, Gastronomie, Hotels. Unternehmen siedelten sich an, viele Wohnhäuser in der Gegend wurden saniert.

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Ein weiteres Projekt: die Neuköllner Oper, die lange an verschiedenen Orten gastiert hatte und 1988, auch infolge Michaels Drängen und Beharren, im Ballsaal eines ehemaligen Gesellschaftshauses eine ständige Spielstätte bekam.

Er arbeitete viel, sehr viel. Ein Zwiespalt: Zu oft war er nicht bei Jérôme, seinem Sohn, und bei Aurore, seiner Frau, und wollte ja doch bei ihnen sein.

Aurore, die in Guadeloupe aufgewachsen war, hatte im Sommer 1966 während des Theaterfestivals auf den Straßen in Avignon mit Freunden Lieder von den Antillen gesungen. Michael hatte in der Zuschauermenge gestanden, hatte sie gesehen und auf der Stelle verstanden: Das ist die Richtige. Er sprach sie an, sie trafen sich wieder am nächsten Tag, liefen zum Pont d’Avignon, schauten die Rhône hinab. Michael fuhr zurück nach Berlin, Aurore nach Paris, er besuchte sie dort einige Male, dann kam sie mit ihm.

2007 starb Aurore. Ein Asthmaleiden.

Michael arbeitete. Wollte immer weiter arbeiten, auch nach dem offiziellen Beginn der Rente. Gern hätte er einen neuen Vertrag mit dem Senat abgeschlossen, aber es gelang nicht.

Er lernte Hilde kennen, reiste, besuchte Jérôme und seine Enkelkinder in München. Schwamm. Machte in einer Sportgruppe mit. Schluckte alle möglichen Vitamine und Mineralien.

Und bekam Anfang des Jahres eine Lungenentzündung. Er erholte sich, musste zu einer Herzoperation, keine große Sache, minimalinvasiv. Die Operation lief schlecht, er erholte sich schleppend, fuhr zu einer Reha. Und steckte sich dort mit Covid-19 an.

Kontaktsperre. Kein Besuch. Allein sein – das konnte er schon immer schwer aushalten. Am 8. Mai starb er.

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