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Michael Strenge

© privat

Nachruf auf Michael Strenge: Ein anderes Spiel

Das Kiffen und die Angst, und wie das eine das andere befördert, das sah er nicht. Dann der Unfall, der keiner war. Doch: „Noch war nicht aller Tage Abend.“

Das eine, das sind die Fakten. Er wuchs bei der Großmutter auf. Die Eltern hatten sich getrennt, waren überfordert mit sich, mit Michael. Die Sehnsucht nach Liebe, unerfüllt. „Stattdessen wurde ich mit Meinungen konfrontiert, deren Ursprung mir verborgen blieb. Alles in allem entging mir irgendwie die Bedeutung von Familie.“

Das andere, das sind die Träume, das war sein Fluchtweg, das Schreiben, das Spintisieren: „ich spiele ein anderes spiel“. Das die anderen nicht verstanden. „Fakt ist, dass man mich irgendwann als psychisch krank eingestuft hat. Tatsächlich verlief aber meine Kindheit äußerlich normal.“ Trotz der Schizophrenie.

Bis er mit dem Kiffen anfing, mit 14. „Die Wirkung der Tüte entsprach genau meinen Vorstellungen. Die Gedanken werden zur Vision. Die Lacher explodierten in meinem Hals. Der Abend war alt nach der Heimkehr zur Großmutter, und der Rausch war noch da. Die Musik verschlang mich mit farbigen Wunderklängen, die ich so noch nie gehört hatte. Die Menschen wurden in der Sicherheit meines Zimmers zu Statisten.“

Und er wurde zum Statist im Leben der anderen. Schlimmer. Er wurde zum Problem. Die Mutter zog sich vollends von ihm zurück. Der Vater überforderte ihn mit Ratschlägen. Nur die Großmutter stand zu ihm. So blieb er für immer ein Kind, entgegen allen Aufforderungen, endlich erwachsen zu werden.

„Mein Hauptproblem in der Bewältigung von Realität war es“, so notierte er in einem seiner unveröffentlichten Manuskripte, „dass Menschen in ihren Verhaltensweisen in der Regel mein Unverständnis erwirkten. Mein kindliches Grundverständnis von der Menschheit war das einer komplizierten Spezies. Es fehlte mir noch das Wissen um die Unehrlichkeit als etwas, das respektiert wurde; ich wusste um die Existenz von Gewalttätigkeit, und sämtliche Aspekte meiner Welt miteinander ergaben kein zusammenhängendes Bild. Die Reife der Erwachsenen erschien mir unerreichbar.“

Wunder allerorten

Das Glück unendlich fern. Wäre da nicht die Musik gewesen. Der Freund Başar.„Er drückte mir ein Tape in die Hand. Es war, als leuchtete eine Taschenlampe darauf.“ Die Musik ließ die Stadt erglühen und die Frauen noch schöner erscheinen. Wunder allerorten. „Eine stattliche Citroën DS Schrottlimousine war am Straßenrand der Windscheidstraße unter einer S-Bahnbrücke zurückgelassen worden. Ihre Türen waren unverschlossen, das Auto durch einen Unfall völlig zerstört. Doch niemand fackelte es ab … Und – es hatte noch ein funktionierendes Autoradio. Über Wochen setzten wir uns immer wieder mal in die gemütlichen Sitze und hörten Radio. Keiner klaute das Radio, die Batterie war erstaunlich langlebig.“

Die Musik erhellte von innen. Ließ so etwas wie Seele spüren. Die gesungenen Worte berührten ganz anders als die gesprochenen. Sie erzählten von wahrer Liebe. So fing er selbst an, Songs zu schreiben. Sätze zu Liedern, Gedichte, die Worte wie Pfeile in einem Köcher sammelten. Gegen die Angst, die immer schon da gewesen war. Die einfach nicht wich. Sie wandelte sich nur. Das Gespenst nimmt dich an der Hand. Führt dich auf neue Wege. Summt ungehörte Lieder. Verführt dich zur Sucht. „Mein Sensorium meldete mir eine ganz neue Ernsthaftigkeit, in der keine Perspektive lag.“

Das Kiffen und die Angst, und wie das eine das andere befördert, das sah er nicht, oder vielleicht sah er es und fürchtete sich davor, fürchtete sich, der Stimme nicht Folge zu leisten, die befahl: Wirf dich vor den Zug.

Der Großmutter stahl er den Fernsehapparat und versetzte ihn beim Pfandleiher. Für ein Piece verhökerte er auf der Straße Schallplatten, die er zuvor in der Bibliothek ausgeliehen hatte. Der Vater zahlte die Geldbußen und machte kein Geheimnis aus seiner Enttäuschung über den verlorenen Sohn. Die Lehrer winkten ab, wenn sein Name fiel. Die Freunde wurden zu Kiffern, die Kiffer zu Freunden. Beziehungen hielten nicht stand. „Ich zerbröselte sie sozusagen wie ein Piece in einen Joint.“

Ein Trip zum Vergessen, ein Trip ins Vergessen

Wäre da nicht die Liebe gewesen. Er verliebte sich gern und schnell, Hals über Kopf, verdrehte die Augen, wann immer er ein Mädchen sitzen, liegen, gehen sah, das seins hätte sein können, für immer, oder zumindest für den Moment des Blickwechsels. „Dieses Mädchen war wie brennender Haschrauch im Hals. Ihre Augen waren Panoramafenster in den Himmel.“ Dorthin sollte sein Weg führen. In die Freiheit. Der Weg dorthin führte über die Straße, der Weg dorthin führte über London, über Amsterdam hin zum LSD. Der Weg dorthin war ein Trip zum Vergessen, ein Trip ins Vergessen. Obdachlos. Ruhelos. Und ohne Einsicht. „Ich sah die Dinge nicht mehr, wie sie waren.“

Die Empfindung, auf ganzer Linie versagt zu haben. „Der Albtraum der Paranoia kommender Jahre, den zeitweilig keine Haschpfeife mehr verhindern konnte, war wachgeküsst. Der entsprechende Zusammenhang ist mein persönliches Mysterium.“ Das gar kein so großes Mysterium war. Das absolute Gefühl der Freiheit erzeugte Angst. Die Straße war sein Zuhause, aber sie führte nirgendwohin. Die Freiheit war Einsamkeit, und in der Einsamkeit wuchs die Angst, und die Angst diktierte: Wirf dich vor den Zug.

„In den Stiefeln des Leichtsinns“ war er unterwegs, geschaukelt im Wellengang der Paranoia, ohne Boden unter den Füßen, Diagnose Höhenkoller, freier Fall, wie ein Engel der Sünde, so stürzte er sich aus dem Himmel, geradewegs vor die U-Bahn.

Der Unfall, der keiner war, auch wenn er selbst nicht mehr wusste, wie genau es dazu gekommen war: „sie nennen es den wahnsinn, ich stand einen schritt näher am traum“, einen Schritt näher an die Bahnsteigkante treten. Und noch einen. Die U-Bahn erfasste ihn. Er warf sich, er wurde geworfen, „die behinderung kam wie ein fallendes kreuz / der liebe gott wollte dich noch nicht haben / hat meine mutter auf der intensivstation gesagt / inzwischen hat er sie geholt / die behinderung spricht bände / großmutter legt die hand auf meine schulter / der vater findet seinen sohn / die frauen werden scheinbar zu albernheiten inspiriert / der rollstuhl ist mein neuer thron.“

Plötzlich war der Vater nett

Das zweite Leben. „Als ich im Krankenhaus erwachte, war es, als ob ein neuer Film begänne. 1995 schlug ich die Augen auf. Die Erinnerung war weg, zumindest die unmittelbare. ‚Weswegen bin ich hier?’, fragte ich den Arzt, als er jung und abgeklärt neben meinem Bett stand und nachdem ich mitbekommen hatte, dass mir die Extremitäten nahezu komplett fehlten. Ich staunte nicht darüber: Ich war vor eine U-Bahn gesprungen. Vier Wochen im Koma. Im Koma, das ist: wie durch einen Dschungel zu pilgern, wobei ich bei irgendeiner Krankenschwester ausgerechnet zwei Biere bestellte, als ob ich noch mal mit dem Tode anstoßen wollte.“

Erwachen, das heißt: Entscheidungen treffen. Prothesen, ja, nein. Ein Rollstuhl ja. Der gab ihm Rückhalt. „Ich war nicht schockiert über die Amputationen an meinem Körper – ich war fasziniert. Und auch mein Vater besuchte mich. Plötzlich war er sehr nett zu mir.“ 25 Jahre und schon ein Leben hinter sich. Aber die Euphorie über den Neuanfang verflüchtigte sich, als er wieder mit dem Kiffen anfing. Manche Pfleger kifften. Manche Patienten. Kiffen war Kur ohne Rezept. Kiffen war Arznei. Aber Kiffen kostete. Deshalb „war es klar, dass ich auf meinem elektrischen Rollstuhl Pilgertouren zum Schnorren an den Ku’damm unternahm und die Leute im Vorbeifahren nach glänzendem Silber abgraste.“

Er fand Arbeit in der Behindertenwerkstatt, er bekam einen offiziellen Betreuer, und auch wenn alles seinen geregelten Gang zu gehen schien, so trug es ihn doch insgeheim schon wieder fort. Seltsame Sehnsüchte trieben ihn in die Ferne. Er begann wieder zu schreiben: „mit 25 hab ich nicht gewusst / was sache ist / ich strauchelte in jedes pech / keine eigene kritik an meinen wegen / angebetete vereinfachung“.

Lyrik ist „Tribut an meine körperliche Behinderung im Sinne der Inspiration“, Inspiration ist ein Gnadenakt der Liebe, Liebe ist das Gefühlte. Ihm fehlten die Hände, doch er konnte die Arme ausstrecken. Und seine Augen suchten etwas im Blick der anderen, was die anderen als Bitte empfanden, als Zumutung, als die Freiheit, endlich Gefühl zeigen zu dürfen.

Er saß im Rollstuhl, die Beine teilweise amputiert, die Arme verstümmelt, aber sein Blick fesselte andere Blicke, schon aus Neugier erfuhr er Zuwendung, denn wie sollte sich vorhersagen lassen, welcher Geist in diesem Körper wohnte? Was andere vorschnell dachten, stimmte nicht, „sie zimmern irgendwas zusammen & nennen es klisché“, aber das schlechte Gewissen ihm gegenüber verkehrte sich in wirkliche Zuneigung. Da war Liebe, da war Fürsorge, da waren Menschen, die sich kümmerten.

Aber die Sehnsüchte blieben

Das Leben gewann wieder Struktur, die Wege schienen jetzt abgesteckt. „Die Spannung, von fachlichen Entscheidungen abhängig zu sein, erschien mir surreal. Was ich in den Jahren auf der Straße nicht gekannt und vorher verabscheut hatte, wurde zum Prinzip – Termine und Vereinbarungen. Verbindlichkeit.“ Die Monate vergingen im regulierten Einerlei, aber die Sehnsüchte blieben, steigerten sich. „Weil ich kontinuierlich mit Belanglosigkeiten überhäuft worden bin, ging ich langsam eine Ehe mit gefährlichen Tagträumen ein.“ Was lockte, war das Zirkuszelt der Inspiration, was lockte, waren die Drogen. Andere Drogen. „Ich hatte mir die Jahre mit Haschischrauchen schön gemacht. Ich habe versucht, unbedingt jung zu bleiben, und war damit in der Zeit stehen geblieben – dann hat die Zeit mich eingeholt. Als Kiffer und als Selbstmörder.“

Er bekam eine eigene kleine Wohnung, aber die wurde schnell zum Taubenschlag sämtlicher Freaks vom Prenzlauer Berg. „Die Tatsache, dass ich behindert war, löste sich in Relativität auf, und ich war irgendwann der Meinung, die Psychopharmaka weglassen zu können. Gleichzeitig entdeckte ich eine Connection, die Joints mit psychedelischen Pilzen verkaufte.“

Overkill. Sturz aus dem Rollstuhl. Die Knochen angeknackst, aber schlimmer noch als die Schmerzen war die Angst vor der Behandlung. „Gerade hatte ich in mein neugewonnenes Leben eine erfolgreiche Behindertenkomponente installiert, machte ich einen derartigen Fehler. Die Vision eines verrückten Gottes musste mir ins Hirn geschossen sein, und ich zerstörte das ganze Gebäude wie durch Explosionen. Zunächst mal schmiss ich den Job in der Behindertenwerkstatt. Da ich ohnehin wegen überzeugender Inkompetenz dauer-suspendiert war und meine Arbeitszeit in der Raucherecke verbringen durfte, bis mir die Zigaretten ausgingen, war es mir ein Bedürfnis, die Durchgangsräume mit Popgesängen zu erhellen. In den Pausen gesellten sich die Kollegen zu mir, tauschten ihre Berichte aus und ignorierten mich. Ich war wie ein Blinder, der andere Blinde verführen wollte, anscheinend nicht lebendiger als ein Echo.“

Der Sturz brachte ihn zur Besinnung. Aber nur ganz allmählich. Er kam in ein Wohnheim für chronisch Kranke. Er nahm Medikamente. Er schrieb. Er ging in sich. Nach „drei Jahren meditativer Freizeitgestaltung und einer Abkehr von den Wirrungen und dem Quarzen wurde mir wieder eine Wohnung vermittelt. Die Amtsbetreuung wurde aufgehoben. 2012. Ich war 41. Noch war nicht aller Tage Abend.“

Das dritte Leben: „ich kann kein neues spiel mehr spielen.“ Doch. Er konnte: „der herzschlag ist zur pflicht geworden.“

Die Worte stützten ihn, „ich reime mir die normalität zusammen, wie es jeder tut“, und er verstand es, seine Reime auch an den Mann zu bringen. Und zu den Frauen. Denn sie verwöhnten ihn nach wie vor mit Liebe: „diese menschen, die man frauen nennt / haben diamanten in den augen / stolpern, fallen in den arm der / männer, die nichts taugen.“

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weitere Texte des Autors, Gregor Eisenhauer, lesen Sie hier]

Er war behindert, was manche so verstanden, dass er unentwegter Belehrung bedurfte, was er aber ganz und gar anders sah: „ich habe mein leben einigermaßen verstanden, nicht mehr nötig ist die instruktion, ich nutze die inspiration.“

Es lag in seinem Blick. Er hatte etwas Besonderes, wie ein Troubadour, ein Fahrensmann der Liebe im Rollstuhl.

Dichten, das hieß: „das herzens-instrument neu stimmen / nachdem es gereinigt ist von der gram / das ist jetzt mein selbsternannter job / einen blick auf schöne frauen werfen / den helden der arbeit gratuliern.“ Er blieb, was er schon immer gewesen war, ein Romantiker. Der seinen Spaß mit denen hatte, welche von ihm Trübsal erwarteten, die er nie empfand.

2012 wurde bei ihm die Lungenkrankheit COPD diagnostiziert, dennoch rauchte er seine Zigaretten. Mit dem Handballen und einem halben Daumen verstand er es, sich Feuer zu geben. Er hatte noch so viel zu tun, die neu gewonnene Klarheit in Worte fassen. Die Worte unter die Menschen bringen. „Schreiben ist für mich eine Leidenschaft, und als Bettler möchte ich den Menschen etwas zurückgeben – wobei es falsch wäre, ein gewisses finanzielles Interesse zu leugnen.“ Nein, keine Lebensmüdigkeit, nur schwindlig war ihm, von der Zigarette, der letzten, ohnmächtig ist er nach dem ersten Zug aus dem Rollstuhl gefallen, mit dem Kopf aufgeschlagen, ein Unfall, kein Selbstmord, das dritte Leben nahm ein gutes Ende, so gesehen.

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