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Michael Hamburger

© Christoph Silber

Nachruf auf Michael Pitt Hamburger: „Dies weite, weltumspannende Theater“

In China geboren, in England aufgewachsen, die Eltern Agenten - und er? Ging in die DDR und ans Theater und wurde Shakespeare-Spezialist.

Selbstverständlich kennt Michael Hamburger die Geschichte der Shakespeare-Übersetzungen. Er bewundert die alten Schlegel-Tieck-Texte, doch er weiß auch, dass Regisseure und Schauspieler nicht viel damit anfangen können. Sie mögen den stillen Leser erfreuen, für die Bühne aber braucht es Texte, die man sprechen kann, ohne angestaubt und vorgestrig zu wirken. Es ist nicht allein die Furchtlosigkeit, die Michael Hamburger dazu befähigt, eine Neuübersetzung anzugehen. Sein Englisch ist ein muttersprachliches. Sprachkundige wie ihn gibt es am DDR-Theater nicht allzu häufig.

Weder seine Mutter noch sein Vater stammen aus Großbritannien; er aber ist in Oxford zur Schule gegangen und hat in Aberdeen studiert.

Es beginnt in China. Sein Vater, Rudolf Hamburger, ist Architekt und geht wegen eines Bauauftrags nach Shanghai, begleitet von Ursula Kuczynski, einem, wie Michael später über seine Mutter schreiben wird, „temperamentvollen, mit ganzer Leidenschaft dem Kommunismus zugetanen Mädchen“. Der Vater macht Karriere, die Mutter bekommt ein Kind, Michael, und verspürt nicht die geringste Lust, „in dem neokolonialen Spießermilieu“ die nette Gattin zu geben. Sie trifft Richard Sorge, einen Schriftsteller und Kommunisten, der für den sowjetischen Geheimdienst arbeitet. Gemeinsam stellen sie Kontakte zur Kommunistischen Partei Chinas her. Während ihr Mann repräsentative Gebäude plant, lädt sie zu konspirativen Treffen ins eigene Haus, Aktivitäten, auf die die Todesstrafe steht. Ihr Mann gerät außer sich: Wie kann sie die Familie nur in solche Gefahr bringen!

Sie lässt sich nicht beirren und geht sogar nach Moskau für eine Ausbildung bei der GRU, dem sowjetischen Militärgeheimdienst. Michael lebt in dieser Zeit bei den Großeltern in der Tschechoslowakei.

Der Weltkrieg beginnt, und Michaels Vater entschließt sich, ebenfalls für die GRU zu arbeiten. Gemeinsam mit seiner Frau und dem Sohn zieht er nach Polen. Sie sollen die Legende der glücklichen Familie aufrechterhalten, obwohl die Ehe am Ende ist. Michael freut sich, wieder bei den Eltern leben zu können. Sie fahren Ski im Tatra-Gebirge, wohnen „in einem märchenhaften Holzhaus“. Die Mutter unterrichtet ihn, mit dem Vater erschafft er „immer kühnere Bauwerke aus dem Baukasten“.

Der Deckname der Mutter: "Sonja"

Sie ziehen weiter, in die Schweiz, wo die Eltern sich schließlich scheiden lassen. Michael bleibt bei der Mutter. Der Vater geht wieder nach China, wird verhaftet, gefoltert, geht nach Teheran, wird wieder verhaftet, freigelassen und begibt sich nach Moskau, wo er am dritten Tag festgenommen wird. Es ist die Zeit des stalinistischen Wahnsinns, Rudolf Hamburger verschwindet im Arbeitslager. Seine Aufzeichnungen aus jener Zeit wird Michael im Jahr 2013 als Buch herausgeben: „Zehn Jahre Lager“.

Die Mutter, Deckname „Sonja“, zieht mit Michael nach England, wo sie als Kurier arbeitet. Der Kernphysiker Klaus Fuchs arbeitet beim britisch-amerikanischen „Manhattan-Projekt“ am Bau der Atombombe. Auch er ist sowjetischer Spion, und beschafft jene Unterlagen, die Michaels Mutter weiterreicht, und die entscheidend sind bei der Entwicklung der sowjetischen Atombombe.

1950 wird Klaus Fuchs verhaftet, und auch „Sonja“ droht die Enttarnung. Sie muss England verlassen und geht in die DDR. Michael, der inzwischen Philosophie studiert hat, steht nun vor der Wahl. Soll er ihr folgen? 1952 entscheidet er sich dafür. Das sozialistische Experiment, das sie dort wagen, interessiert ihn. In Leipzig schreibt er sich für Physik ein.

Das unstete, riskante Leben ist vorbei, von der großen gelangt er in eine recht kleine Welt. Aber die große, weite bleibt ja in seinem Kopf. Die Erinnerungen, die Sprachen, der britische Humor, das geistes- und das naturwissenschaftliche Denken.

In Leipzig beteiligt er sich an einer Studententheatergruppe, auch sie weitet noch mal seinen Horizont. Er besucht Literaturvorlesungen. Da er auch in seinem eigentlichen Fach, der Physik, großes Talent beweist, will ihn Manfred von Ardenne an sein berühmtes Institut holen. Es ist nur noch keine Stelle frei, also arbeitet Michael zunächst für „Radio Berlin International“ als Übersetzer. Dann will sein Freund, der Regisseur Adolf Dresen, „Hamlet“ inszenieren, aber bitte mit einem neuen, sprechbaren Text! Zusammen wagen sie sich an das Werk, dichten nicht einfach nach, sondern schaffen etwas Außerordentliches, ganz eigenes. Andere Theater wollen ihre Fassung, auch der Henschel-Verlag. Mit der Physik ist es jetzt vorbei, Michael Hamburger geht nicht zu Ardenne; er bleibt am Theater.

Dresen holt ihn als Regieassistent nach Berlin ans „Deutsche Theater“. Er vertieft sich mehr und mehr in die shakespearesche Musikalität, die Spannung in den Versen, die im Spiel entsteht durch Bedeutung und Betonung von Zeilenanfängen und Zeilensprüngen. Er modelliert die Worte gleich einem bildenden Künstler, den Originaltext vor sich, in seinem Arbeitszimmer im DT oder auf seinem breiten Bauhausschreibtisch zu Hause.

„As you like it“, „Wie es Euch gefällt“, zum Beispiel, 2. Akt, 7. Szene: Thou seest we are not all alone unhappy. / This wide and universal theater / Presents more woeful pageants than / the scene / Wherein we play in. Daneben die Schlegel-Tieck-Übersetzung: Du siehst, unglücklich sind nicht wir allein, / Und dieser weite, allgemeine Schauplatz / Beut mehr betrübte Szenen dar, als unsre, / Worin du spielst. Seine Version lautet schließlich so: Du siehst, wir sind im Unglück nicht allein, / Dies weite, weltumspannende Theater / Zeigt viel mehr Trauerspiele als die Szene, / In der wir spielen.

Wenn er nicht sitzt, geht er, spaziert, bringt seinen Kopf während des Laufens in Bewegung, die Gedanken, die ihm in dieser kleinen DDR doch allzu häufig festgezurrt erscheinen. Immer wieder die Frage, ob er das Land verlassen oder bleiben soll. Reisen darf er, ab und an, aus beruflichen Gründen, jede Reise jedoch muss beim Ministerium beantragt werden, kein weites, weltumspannendes Theater, sondern ein von den Genossen zusammengeschrumpftes. Und doch gibt es immer noch diese Idee von einem menschlichen Sozialismus. Jeden Freitag trifft er sich mit Freunden zum Diskutieren.

[Die anderen Texte unserer Nachrufe-Rubrik lesen Sie hier, weitere Texte der Autorin, Tatjana Wulfert, lesen Sie hier]

Und da sind auch noch die Eltern. Der Vater kam 1955 aus der Verbannung und arbeitet am Aufbau von Hoyerswerda. Die Mutter schreibt unter dem Pseudonym Ruth Werner Kinderbücher und später „Sonjas Rapport“ über ihre Agentenzeit.

Michael bleibt in der DDR. Er gibt die Idee eines demokratischen, gerechten Landes nicht auf. Er hat ja auch seine Familie hier. Heiratet dreimal, bekommt vier Kinder. Ganz ähnlich wie die Mutter, die drei Kinder von drei Männern hat, getreu dem Motto: „Jedem Kind seinen eigenen Vater!“

Zu einer Tochter hat Michael, seit sie vier war, keinen Kontakt. 2007 erhält er ein Stipendium der Hermann- Hesse-Stiftung. Seine Tochter verehrt Hesse und stößt eines Tages im Internet auf den Namen „Michael Hamburger“. Sie schreibt ihm: „Ich bin Ihre Tochter.“

Seither gehört sie zur großen Familie, deren Mitglieder überall wohnen, weshalb die regelmäßigen Familientreffen irgendwo stattfinden: in London, in Dublin, in Tallinn, in Paris.

Nach seinen 30 Jahren als Dramaturg am Deutschen Theater übersetzt Michael weiter. Arbeitet mit der „Bremer Shakespeare Company“ und mit dem Theater „Shakespeare und Partner“. Wird Vizepräsident der „Deutschen Shakespeare-Gesellschaft“. Sitzt im Londoner „Globe Theatre“ mit seiner Fassung von „Wie es Euch gefällt“ auf den Knien, will untersuchen, welchen Einfluss dieser Raum auf so ein Stück hat, auch um zu ermessen, ob seine Übersetzung gelungen ist.

„Schreib ein Buch über dein Leben“, schlagen Freunde vor. Er winkt ab, es kommt ihm allzu selbstbezogen vor, notiert dann doch ein paar Geschichten in loser Folge, bricht wieder ab. Im Januar ist Michael Pitt Hamburger gestorben.

[Wir schreiben regelmäßig über nicht-prominente Berliner, die in jüngster Zeit verstorben sind. Wenn Sie vom Ableben eines Menschen erfahren, über den wir einen Nachruf schreiben sollten, melden Sie sich bitte bei uns: nachrufe@tagesspiegel.de. Wie die Nachrufe entstehen, erfahren Sie hier.]

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