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 „Schach-Micha“ gehörte in Kreuzberg Jahrzehnte lang zum Inventar.

© Ludwig Menkhoff

Nachruf auf Michael Keit (Geb. 1936): Das Einmannuniversum

"Schach-Micha" war zum Siegen verdammt. Im Spiel gelang ihm das oft, im Leben nicht. Der Nachruf auf einen Helden der Kreuzberger Kneipenszene.

Wenn man zu viel über das Leben nachdenkt, vergisst man zu leben. Da sind sie sich einig in den wenigen verbliebenen Eckkneipen von Kreuzberg. „Schach-Micha“ gehörte hier Jahrzehnte lang zum Inventar. Nicht die Bierbestellung war seine erste Amtshandlung, sondern das Aufstellen der Figuren. Dann wartete er auf Gegner. Studenten, Arbeiter, Lebenskünstler, ganz egal, Hauptsache er konnte spielen. Und er konnte gewinnen, sonst wurde er fuchsteufelswild. Eben hieß seine Bestellung noch „Mein goldenes Reh, bring mir doch ein Bier“, jetzt, bei drohender Niederlage: „Xanthippe, Bier!“ Nicht alle Wirtsleute wollten das tolerieren, zumal sein Durst in ungünstigem Verhältnis zu seinen Finanzen stand. Er war zum Siegen verdammt. Beim Schach gelang das oft, im Leben fehlten die Ellbogen.

Wenn der zarte Mann mit abgewetztem Anzug, aber gepflegtem Bart und Haupthaar die Tür aufriss, schallte ihm oft ein dröhnendes „Wat is’n dit für’n Murkel“ entgegen. Dann lächelte er und fragte nach einem Schachbrett. Und wartete auf die, die seine Biere bezahlen würden. Wenn das nicht gelang, musste er die Kneipe wechseln oder Kunst verkaufen. Denn Maler und Grafiker war er auch und hatte seine Werke stets dabei. Wer seine filigranen Schnellporträts im Voraus bezahlte und auf Nachbesserung hoffte, wurde enttäuscht. Es blieben Skizzen. Aber kaum jemand nahm ihm das krumm. Abbruch und Stückwerk gehörten zu seinem Leben.

Michael Keit beim Schachspiel
Michael Keit beim Schachspiel

© privat

Geboren wurde er in Meißen, der Vater, ein Orthopäde, blieb im Krieg, die Mutter allein mit drei Kindern. Michael war von Anfang an das Sorgenkind, verträumt, langsam, pedantisch. Aufsätze blieben Textanfänge, als würde alles nicht genügen.

Nach der Hauptschule eine ungeliebte Lehre als Schlosser, die er nicht beendete. Er zeichnete viel lieber, schon immer. Ein Selbstportrait als Zwölfjähriger zeigt das Gesicht eines trotzig-angeekelten Kindes, das mit sich und der Welt nicht im Reinen ist. Warum das so war, wusste er selbst nicht zu sagen.

Ein viel gelobter, brotloser Künstler

Ein Selbstporträt aus dem Jahr 1949.
Ein Selbstporträt aus dem Jahr 1949.

© privat

Sein älterer Bruder Peter brachte ihm das Schachspiel bei. Vertieft in die Figuren, ohne Zwang, von sich zu sprechen, das lag Michael. Mit der Mutter siedelte er 1953 nach West-Berlin über. Mit 16 bewarb er sich mit einer Mappe an der Berliner Hochschule für bildende Künste. Die Professoren waren begeistert von seinem Talent.

Zwölf Semester später ist er ein viel gelobter, brotloser Künstler. Ein Naturalist, dem Tiere, Pflanzen und Menschen in höchster Perfektion gelingen. Aber der Kunstmarkt will Abstraktion oder Neosurrealismus. Die Mutter verschafft ihm in Hamburg eine Umschulung als Tiefdruck-Retuscheur. Ihr zuliebe hält er durch, dann zieht es ihn zurück nach West-Berlin. Gelegenheitsjobs in der Metall- und Papierverarbeitung, kleine Bildverkäufe, irgendwie kann er sich über Wasser halten, mehr nicht. Die Mutter hat die Bettel- und Jammerbriefe irgendwann satt.

Ein psychologisches Gutachten soll ihm 1964 Aufschluss über sich und sein Verhältnis zur Welt geben. Selbstzweifel, Verzicht auf sinnliches Lusterleben und wirklichkeitsfremdes Denken werden attestiert. Das Leben als Zumutung. Ohne Respekt. Die Jahrzehnte gehen vorbei, der Kontakt zum Bruder wird sporadisch, die Mutter holt ihn aus seiner Kreuzberger Abrisswohnung nach Charlottenburg. Seine besten Bilder zeigen sie, eine resolute Frau, die weiß, was er will.

Er will rauchen, trinken und Schach spielen. In Kreuzberg gibt es dafür viele Möglichkeiten, in der Eckkneipe „Zum Goldenen Hahn“ verweilt er am häufigsten. Hier wird angeschrieben, und am Jahresende werden die Deckel verbrannt. Kleidung und Lebensmittel gibt es auch – die „Junggesellenpakete“. Keine Ausstellungen, seit den Neunzigern kaum noch Kunstproduktion. Der Tod seiner Mutter 1994 ist eine letzte Zäsur. Er kann ihre Wohnung übernehmen, ihr Gebiss behält er jahrelang in einem Glas im Badezimmer. Sein Bruder Peter ist nach dem Mauerfall auch wieder da, sie spielen Schach und reden wenig. Wie immer.

Wenigen öffnet er sich, einer der wenigen ist der Anarcho-Verleger Bernd Kramer. Gemeinsam entwerfen sie abstruse Ideen auf Bierdeckeln, etwa den höflichen, aber bestimmten Rundbrief an Banken, bitte ihre klammen Konten unverzüglich aufzufüllen.

Micha ist ein Einmann-Universum, Kybernetiker und Zwiebelforscher, stets auf der Suche nach der Formel, die die Existenz erklärt. Als er stirbt, steht sein Bruder nicht nur vor Bildern. Er findet auch zahllose Textversuche, die immer ein Thema umkreisen, ohne es zu fassen: die zufällige Begegnung mit einer Bäckereiverkäuferin. Ein unerwiderter Liebesschmerz. Sie weiß nichts von seinem Begehren. Auf den Bildern finden sich Symbole, Formeln, Gleichungen. Das System dahinter hat Micha ins Grab genommen. Es soll Lottozahlen prognostizieren, hat er mal gesagt. Schade, dass die Entsorger das Zentralbild versehentlich in den Müll geworfen haben.

Ab 15. November wird es eine Ausstellung seiner Werke in der „Werkstatt für Experimente“ in Prenzlauer Berg geben: „mein alter freund und kupfer stecher“. Und im „Goldenen Hahn“ richten sie ein „Erinnerungsschachturnier“ aus. Da soll es nicht ums Gewinnen gehen – ein fremder Gedanke für Schach-Micha.

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