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Berlin: Nachruf auf Matthias „Ulli“ Jacob (Geb. 1967)

„Bald wird’s dunkel.“ - „Mann, ja, bald, aber nicht jetzt!“

Es gibt so Leute, die einfach machen, wozu anderen die Courage fehlt. Am Anfang, in jungen Jahren, ist es noch nicht in aller Deutlichkeit zu erkennen, es zeigt sich nur hier und da, das Wilde, Unbedingte. Da waren die Tante und der Onkel, mit denen Ulli tagelang im Faltboot über die Flüsse und die Seen fuhr, an Wald- und Feldrändern übernachtete. Später zog er allein los zum Biwaken in Brandenburg, zum Boofen in die Sächsische Schweiz. Machte einen Bauwagen bewohnbar und stellte ihn in die Landschaft, irgendwo, Hauptsache weit weg von einer Stadt. Obwohl er aus Berlin kam, aus Berlin-Mitte. Dann fand er dieses Haus, das letzte der Straße in Schlockow, einem Dorf in den hügeligen Endmoränen an der Warnow, am Nordrand der Mecklenburgischen Seenplatte. Dahin schleppte er seinen Bauwagen und stellte ihn auf die Wiese neben dem Haus.

Da war einst ein ganz anderes Haus, jenes in Potsdam, in das er mit seiner Mutter, einer Bibliothekarin, gezogen war, zu seinem Stiefvater, einem Architekten und Bildhauer, mit den Plastiken im Garten, den Bildern an den Wänden, den Büchern auf den Borden. Er hörte nachts in seinem Bett die Gespräche der Erwachsenen im Zimmer nebenan über das Leben, die Politik und die Kunst. Er hörte die Musik, die sie laut aufdrehten, Alexis Korner, Jethro Tull, die Stones. Das Haus war immer offen, auch für seine Freunde, die aus angepassteren Familien kamen und staunten, welch weite Welten in der DDR möglich waren.

Da war, einige Jahre später, das Potsdamer Abrisshaus, in dem er mit seinen Freunden wohnte. Ulli war irgendwie, überaus geschickt an einen Mietvertrag für drei Etagen im Seitenflügel gekommen, seine Freunde wohnten illegal um ihn herum. Auch dieses Haus war offen, jeder konnte zu jeder Zeit vorbeikommen, man diskutierte und musizierte. Ulli spielte den Blues auf Mundharmonika und Maultrommel. Sie gingen zu Punkkonzerten und tanzten Pogo, sie gingen zum einzigen DDR-Auftritt der „Einstürzenden Neubauten“. Doch war Ulli weder Blueser noch Punk noch Avantgardist. Keine Festlegung auf irgendwas. Bis auf die Sache mit der Volksarmee. Dahin wollte er auf keinen Fall. Er verweigerte komplett, lehnte es also auch ab, zu den sogenannten Bausoldaten zu gehen, die keine Waffe anzufassen brauchten. Als Bausoldat hätte er hinterher kaum etwas studieren können; dem Totalverweigerer drohte der Knast. Das war ihm klar. Er konsultierte zwei Anwälte, versuchte, die Konsequenzen seiner Entscheidung halbwegs glimpflich zu gestalten. Doch dann war alles ganz egal, denn die DDR löste sich auf.

Ein paar Jahre später, das Haus in Schlockow, ein verfallener Bahnhofsbau. Auch das hatte ihn immer schon angezogen, der morbide Charme verlassener Orte. Wenn er über stillgelegte Gelände der sowjetischen Armee oder durch die verfallenen Bauten der Beelitzer Heilstätten streifte, hier eine Klinke mitnahm, dort einen Kleiderhaken. Nie hörte er auf mit dieser Sammelei. Fuhr zum Schrottplatz, um etwas abzuladen und kam wieder mit ein paar anderen Sachen.

Er brauchte ja auch viele Sachen, denn er bastelte. Miniaturen in Schachteln: eine bergige Landschaft, über die ein beweglicher Heißluftballon schwebte, ein geschnitzter Turm zu Babel.

Nach einer Lehre zum Ofensetzer und ein paar Jahren in München begann er, Kamine zu bauen. Aber nicht irgendwelche profanen Rechtecke mit gusseisernem Gitter. Seine Kamine standen mitten im Raum, runde, organische Formen. Kaminlandschaften. Lehmverputzt, mit Liegeflächen, Treppen, versetzten Sitzflächen, verschiedenen Wärmegraden, die ein ganzes Gebäude beheizten. Komplizierte Konstruktionen, an die sich kein anderer Kaminbauer heranwagte. Er baute Öfen in Frankreich, in der Schweiz, in Neuseeland.

Wenn andere dasaßen und sagten: „Ja, das müssen wir machen. Aber bald wird’s dunkel …“, rief er: „Mann, ja, bald, aber nicht jetzt.“ Allein die Sache mit den Pflöcken für den Schafszaun. Er grub mit seinen riesigen Händen ein Loch in die Erde, das zu groß geriet. Ein zweites, zu kleines. Und immer so weiter. Bis er genau den Umfang hinkriegte, den er sich vorgestellt hatte.

Es kamen immer mehr Bauwagen neben seinen ersten. Er strich sie flaschengrün, zimmerte Veranden davor und Holzterrassen an die Seiten. Ersetzte eckige Fenster durch runde, baute Küchen und Kühlschränke ein, Schlafecken, Stühle, Tische. Dann vermietete er die Wagen an Urlauber, mit denen er abends am Lagerfeuer saß und auf seiner Mundharmonika einen alten Blues spielte. „Ulli war wie ein Kleber“, sagt Stefanie, seine Frau, mit der er die Kinder Sina und Farah und Matthias hatte. „Er konnte alles und alle zusammenhalten.“ Nur einfach so rumsitzen, das konnte er nicht.

Er hatte angefangen, sich eine Schmiede einzurichten, Plastiken zu formen, einen grazilen, eisernen Tänzer. Er stellte sich vor, in Kenia eine Disco zu eröffnen und irgendwann einmal eine Zeit lang in den USA zu leben. Er rauschte mit seinem Sprinter, 160 km/h, das Handy am Ohr, von einem Termin zum nächsten. Dann ging er eines Abends nach einem schönen, lebendigen Tag zu Bett. Bekam einen Schlaganfall. Und starb.

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