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Matthias Kozlowski

© privat

Nachruf auf Matthias Kozlowski: „Du bringst es zur Welt, ich ziehe es groß“

Ein Geheimnis rankte sich um seine Geburt. Er sollte es erfahren, als er längst erwachsen war. Ein Nachruf wie ein Märchen.

Die Geschichte seines Lebens, sie klingt wie eins der Märchen, die er so gern seinen Kindern und Enkeln erzählte. Vor gar nicht allzu langer Zeit lebte in einer Stadt im Osten, die damals Schneidemühl hieß, die schöne Adelheid. Sie war die Tochter eines wohlhabenden Bäckers, der Pole war und eine deutsche Frau geheiratet hatte, der Liebe wegen. Und so war Adelheid das Glück in die Wiege gelegt. Sie wuchs heran als Prinzessin, lernte viele Sprachen, spielte das Klavier, ritt edle Pferde, bis der Vater ihr ein Auto schenkte.

Adelheid heiratete früh, gebar einen Sohn, doch sie war wählerisch und suchte sich einen neuen Prinzen, mit dem sie zwei weitere Söhne zeugte. Es kam der Krieg, der Mann wurde Soldat und starb, die Eltern verloren erst all ihren Reichtum und dann ihr Leben. Ein ehemaliger Bäckergeselle ermordete sie aus Rache, weil sie ihn entlassen hatten.

Die Heimatstadt Schneidemühl hieß nach dem Krieg polnisch Piła, Adelheid wurde nunmehr Adela gerufen und musste arbeiten, um sich und ihre Söhne zu ernähren. Aber ein neuer Prinz stand schon vor der Tür, er war vorgefahren in einem schwarzen Wolga, ein Funktionär der mächtigen Partei, und ein Filou, in den sie sich dennoch verliebte, und von dem sie schwanger wurde. Doch auch seine Ehefrau, die fernab wohnte, war von ihm schwanger, und so fuhr Adelheid nach Posen, um einen Arzt aufzusuchen. Aber zuvor traf sie ihre polnische Cousine Marta, eine gläubige Frau, verheiratet, aber viel zu lange kinderlos, der sie von ihrer Schwangerschaft erzählte. Marta nahm es als ein Geschenk Gottes und bat Adelheid flehentlich, das Kind auszutragen und ihr zu überlassen. „Du bringst es zur Welt, ich ziehe es groß“, so der Vertrag, den sie per Handschlag schlossen.

Kurz vor Heiligabend 1951, brachte Adelheid einen Jungen zur Welt. Doch die Hebamme beugte sich zu ihr und befahl: „Weiter pressen, da kommt noch einer!“ Ein Nachzügler, sehr schwächlich, der den Namen Maciej erhielt: „Geschenk Gottes“. Adelheid behielt den älteren Sohn, Marta erhielt den Zweitgeborenen. Beide vereinbarten Stillschweigen über die Zwillingsgeburt.

Vor aller Zärtlichkeit kam die Frömmigkeit

Marta und ihr Mann waren sehr fürsorgliche Eltern, ihr Kind sollte es besser haben als alle anderen, aber vor aller Zärtlichkeit kam die Frömmigkeit. Und so wuchs Maciej in Posen auf, im Glauben, er sei der einzige Sohn seiner sehr alten und sehr strengen Eltern. Adelheid hingegen übersiedelte dank der Hilfe ihres verheirateten Prinzen, der sie glücklich aber anderswo wissen wollte, mit ihren vier Söhnen in die Stadt ihrer Träume, nach West-Berlin.

Nach wie vor galt das Versprechen, dass Maciej bis zu Martas Tod nicht erfahren sollte, wer seine wirkliche Mutter war. Aber dass etwas im Argen lag, spürte er. Vielleicht war er deswegen ein wenig aufrührerisch, und so wurde er in der Schule neben die brave Hanka gesetzt, die später seine Frau werden sollte. Denn auch wenn er selbst zuweilen nach anderen Mädchen Ausschau hielt, so wollte er sie keineswegs an der Hand eines anderen Jungen sehen. Die beiden heirateten, als sie 23 wurden. Neun Monate nach dem Hochzeitstag kam ihr Sohn auf die Welt.

Sieben lange Jahre wohnte die kleine Familie bei den Schwiegereltern. Hanka hatte ihr Studium der Chemie beendet und wurde Laborleiterin. Maciej brach sein Studium ab und reiste als Einkäufer umher. Er kannte immer einen, der einen kannte, der an das herankam, was ein anderer gerade brauchte. Und so tauschte er ein Dutzend Gläser Nougatcréme gegen eine Bohrmaschine und die gegen ein Fahrrad und das gegen eine Gefälligkeit.

Eine Tochter wurde geboren, es ging ihnen gut, aber es drangen Gerüchte an sein Ohr. „Sind Sie nicht das Adoptivkind?“ „Damals gab es doch den kleinen Skandal, die Zwillingsgeburt!“

Mehr erfuhr er nie, bis Tante Adelheid ihn 1979 nach West-Berlin einlud. „Tante“, fragte er sie da direkt, „was war da Komisches mit meiner Geburt?“ Da drehte sich die schöne Adelheid betroffen zum Fenster, sann nach und wandte sich dann zu ihm mit den Worten: „Ich habe dich geboren, aber deine Mutter lebt in Posen.“

Maciej war erstaunt, aber nicht erschüttert, und findig, wie er war, kam ihm sofort die Idee, wie er seinen Kindern ein glücklicheres Leben bieten konnte. Er reiste nach Posen zurück, verriet Marta, seiner Adoptivmutter, bei der Ankunft mit keinem Wort, was er erfahren hatte, nur Hanka flüsterte er es ins Ohr. Sechs Jahre vergingen, sie behielten das Geheimnis für sich, bis Marta starb. Aber noch galt er rechtlich als ihr Sohn, denn die eigentliche Geburtsurkunde schien unauffindbar. Aber da er immer etwas zum Tausch anbieten konnte, gelangte er schließlich an den Beweis seiner Abstammung von einer deutschen Mutter.

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Hanka wollte nicht in die Fremde, sie wollte bleiben, zumal sie schwanger war mit der zweiten Tochter. Aber ihn zog es fort. „Der Kinder zuliebe!“, bat er wieder und wieder. Ende der 80er Jahre wurde es grauer in Polen und trister, und so stimmte sie schließlich zu, dass er mit dem Sohn voranfuhr. „Es geht nicht zu deiner Tante“, verriet er ihm auf der Fahrt, „es geht zu deiner Oma!“ Zwei Wochen später kamen Hanka und die Töchter hinterher. Und Matthias, wie er nunmehr hieß, sollte recht behalten, es wurde alles gut. Für die Kinder. Für ihn und Hanka war es schwer. Sie lernten rasch die Sprache, aber Arbeit zu finden, war nicht leicht. Hankas Zeugnisse wurden nicht anerkannt, und er wurde als Einkäufer und Tauschkünstler nicht mehr gebraucht. Also arbeitete er als Lagerist, als Bürokaufmann, als Aushilfskraft, und hätte er seine vielen Bücher nicht gehabt, die er über alles liebte, er wäre sicherlich von Zeit zu Zeit verzweifelt.

Aber dann kamen die Enkel, denen er die alten Geschichten weitererzählen konnte, und Hanka und er fanden ein Grundstück am See auf dem Weg nach Posen. Dort saß er im Sommer gern auf seiner Bank, nah am Waldesrand und hat gelesen und geraucht, zu viel geraucht. Und es war ein wenig wie im Märchen von Hans im Glück, er war froh über alles, genauso, wie es gekommen war. Denn auch die Liebe hielt, so sehr Hanka auch an Heimweh litt. „Was habe ich nur für ein Glück, so eine hübsche Frau an meiner Seite zu haben.“ Und die Kinder, und die Enkel. Und nach dem Tod auch die Mutter, die leibliche, denn er wurde in Adelheids Grab beigesetzt.

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