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Nachruf auf Martina Krahl: So läuft es eben

Alleinerziehend in Prenzlauer Berg - keine Seltenheit. Aber das Geld war knapp, immerzu. Sie war hochqualifiziert und hangelte sich von Job zu Job.

Mannheim, 15. November 1995, SPD-Parteitag. Martina Krahl, seit dem Gymnasium bei den Jusos, später in der SPD, ist als Helferin eingesetzt. Rudolf Scharping, Parteivorsitzender, muss sich heftiger Kritik erwehren, die SPD hat die Bundestagswahl, Landtags- und Kommunalwahlen verloren. Anspannung, Diskussionen. Martina hört zu. Hat dann für eine Weile außerhalb des Saales zu tun. Kommt zurück, und alles ist anders. Der Saal ist in Aufruhr, Hochstimmung. Oskar Lafontaine hat die Delegierten von den Sitzen gerissen: „Die gegenwärtige Entwicklung ist völlig inakzeptabel. Die Sekretärinnen, die Krankenpfleger, die Facharbeiter zahlen brav ihre Steuern, und die höheren Einkommen haben so viele Abschreibungsobjekte, dass Millionäre stolz sind, sich zu brüsten, dass sie keinen Pfennig Steuern zahlen – wie soll denn da das Vertrauen in unseren Staat noch gegeben sein?“ Das wollen die Leute hören, das will Martina hören.

Der Mann, den ihre Mutter heiratete, als Martina vier Jahre alt war – ihr Stiefvater –, arbeitet im Schichtdienst. Sie sieht seine Müdigkeit, aber auch seinen Arbeiterstolz.

Am 16. November 1995 verliert Scharping in einer Kampfabstimmung gegen Lafontaine. 1998 gewinnt Gerhard Schröder mit Oskar Lafontaine an seiner Seite die Bundestagswahl. Es ist noch lange hin bis zur Agenda 2010, bis zu Hartz IV.

„Ich weiß“, wird sie später sagen, „unter Kohl hat die Misere angefangen. Aber die Agenda war der Sündenfall der SPD!“ Jetzt jedoch ist sie ganz und gar dabei, studiert neben Slawistik und Romanistik Politikwissenschaften, arbeitet in Mannheim für einen Landtagsabgeordneten, schreibt fürs Radio, engagiert sich in der Gedenkstätte des Zwangsarbeiterlagers Mannheim-Sandhofen, konzentriert sich in der Partei auf die Themen Familie, Frauen, Kinderrechte. Zieht 1996 nach Berlin. Und bekommt selbst ein Kind, János.

Das war eine Oase

Er hat diese dunklen, sanften Augen. Die Augen seines Vaters. Antonio, ein Fotograf, aus einer spanisch-türkischen Familie. „Ein Latino, der berlinert“, sagt Martina. Sie machen zusammen lange Spaziergänge, sie bekommen das Kind, aber eine feste Beziehung haben sie zu keinem Zeitpunkt.

Alleinerziehend – in Prenzlauer Berg, wo sie mit János eine Altbauwohnung bezieht, keine Seltenheit. Für das Buch „Die kleinste Familie der Welt – Vom spannenden Leben allein mit Kind“ erzählt sie der Autorin Bernadette Conrad von ihrem Alltag: „Es war eine Oase hier. Man saß auf dem Spielplatz und hat mit anderen Eltern überlegt, bei wem heute gekocht wird. Ich kam aus Baden-Württemberg und hatte ein Raster dessen im Kopf, was eine ‚richtige Familie’ ist. Und dann machte ich hier in Berlin meine Erfahrungen. Damals war die Hälfte der Leute auf dem Prenzlauer Berg alleinerziehend.“

Und das, obwohl die Mieten damals noch weit günstiger waren, als sie es heute sind: „Wenn ich aus dieser Wohnung raus müsste, hätte ich keine Chance mehr, hier in der Gegend zu bleiben.“

Das Geld ist knapp, immerzu. Obwohl sie arbeitet, hochqualifizierte Jobs bekommt. Beim Schulbuchverlag Cornelsen, im Fraktionsvorstandsbüro von Franz Müntefering, in der Verwaltung des Bundestages, im Sozialwissenschaftlichen Forschungsbüro Berlin-Brandenburg, für Sandra Scheeres. Martina leitet nicht nur sieben Jahre lang deren Büro, sie ist auch mit ihr befreundet. Bis Scheeres aufsteigt, Senatorin für Bildung, Jugend und Wissenschaft wird. Martina hofft auf eine neue Stelle, aber jemand anderes bekommt sie. So läuft es eben. Martina ist enttäuscht. In konkreter und in allgemeiner Hinsicht. Auch die Entwicklung ihrer Partei bringt sie zunehmend auf. Sie sagt: „Solange wir Hartz IV nicht sanktionsfrei machen, solange wir Menschen in Not Daumenschrauben anlegen, braucht die SPD über ihre Zukunft nicht nachzudenken.“

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Dazu die Sorge um János, der von Geburt an stark schwerhörig ist. „Mir war nicht bewusst“, erzählt sie, „dass mein Kind eine Art Behinderung hatte. Wenn er rumzappelte, weil er die Lehrerin nicht hörte, wurde er bestraft.“ Es heißt, er habe ADHS, was nicht stimmt. Ein Ohrenarztbesuch nach dem anderen, bis János mit neun endlich an den Trommelfellen operiert wird, was zu einer deutlichen Verbesserung führt.

Eine Zeitlang lebt sie von Hartz IV, dann hat sie zwei Beschäftigungen gleichzeitig: „Ich hab’ mich von befristet zu befristet gehangelt. In diesen unterbezahlten Teilzeitjobs blutet man aus, kräftemäßig, wirtschaftlich.“

Aber ganz allein ist sie nicht: „In gewissem Sinne sind wir eine Bilderbuchfamilie. János hat vier liebevolle Großeltern.“ Weihnachten und die Ferien verbringt er bei denen in Mannheim. Jene in Berlin sagen: „Ein Kind braucht gute Schuhe. Die Schuhe bekommt er von uns.“ János’ Vater zeigt sich selten. Nicht dass er seinen Sohn nicht liebte, er hat schlicht ein anderes Lebenskonzept. Martina engagiert sich im „Verband alleinerziehender Mütter und Väter“. Sie sagt: „Dass unser Staat es so konsequent in Kauf nimmt, dass diese Kinder massiv weniger Möglichkeiten haben als andere, das macht mich wirklich sauer.“

2016 diagnostiziert man bei ihr Brustkrebs. Und auch János’ Vater erkrankt an Krebs. Er stirbt. Im Mai 2018 organisiert Martina die Demonstration „Es reicht für uns alle!“ gegen Kinderarmut. Im Sommer beginnt sie eine Weiterbildung zur Sozialassistenz. Dann kommt der Krebs zurück. Sie stirbt am 20. Februar, an János’ Geburtstag. Seine Traurigkeit ist kaum auszuhalten.

[Wir schreiben regelmäßig über nicht-prominente Berliner, die in jüngster Zeit verstorben sind. Wenn Sie vom Ableben eines Menschen erfahren, über den wir einen Nachruf schreiben sollten, melden Sie sich bitte bei uns: nachrufe@tagesspiegel.de. Wie die Nachrufe entstehen, erfahren Sie hier.]

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