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Martin Schneider

© privat

Nachruf auf Martin Schneider: Felsenstein sagt Ja

Von den Westreisen kehrte er stets zurück. Nicht wegen des Landes. Wegen der Familie und der Oper.

Manchmal fängt alles mit einem dringenden Wunsch an, dessen Ursprung ein Rätsel bleibt, der aber Weichen für ein ganzes Leben stellt: Martin Schneider, dessen Leben die Klassische Musik, die Oper und weithin alles Feingeistige war, wünschte sich mit sieben Jahren eine Geige. Seine Eltern, die Mutter Hausfrau, der Vater Buchhalter, erfüllten ihm diesen Wunsch, seinerzeit im sachsen-anhaltinischen Merseburg. Sein Kinderbett und die Zither der Mutter wurden dafür eingetauscht, und mit einem Brikett in der einen und der Geige in der anderen Hand ging der Junge zum Geigenlehrer, das Stück Kohle war Teil des Honorars.

Später wurde er Mitglied des „Schäfer-Chors“ und spielte viele Jahre später mit Gerhard Schäfer, seinem Chorleiter für 13 Jahre, Bachs Doppelkonzert im Dom zu Merseburg. Die Richtung also war gesetzt, der junge Schneider beschritt sie weiter konsequent: Er studierte Musikerziehung, Germanistik und Musikwissenschaft an der Martin-Luther-Universität in Halle, schloss mit Diplom ab, und als er im Sommer 1961 nach aller Lernerei Urlaub an den Feldberger Seen in der Uckermark machte, erfuhr er vom Bau der Mauer in Berlin und außerdem von seiner ersten Stelle in der Musikredaktion des Berliner Rundfunks. Berlin, die große, ihm noch unbekannte Stadt, in der er nur einmal „Der gute Mensch von Sezuan“ mit der jungen Käthe Reichel am Berliner Ensemble gesehen hatte, würde von nun an neue Heimat, aber eben auch geteilt sein.

Die Leiter und Lenker mischen sich ein

Mit großer Spannung trat er die Reise an. Und stellte zunächst fest, dass man ihn als Redakteur im Kinderradio erwartete. Er hatte eher an die Redaktion für ernste Musik gedacht, aber das half nun nichts, er nahm die Herausforderung an. Um sich alsbald doch wieder anderswo umzuschauen: Dass die sozialistischen Leiter und Lenker sich selbst in die Auswahl von Kinderliedern einmischten, verdross ihn allzu sehr. Das hatte er öfter erlebt; an dieses Mal erinnerte er sich am besten: Er erschien im Redaktionsbüro, und sämtliche Kollegen schauten ihn entsetzt an. Ein „Wie konnten Sie nur!“ sprach niemand aus, aber es stand deutlich in den Blicken. Was war geschehen? Er hatte das Lied „Jetzt fahr’n wir übern See, übern See“ ins Programm gehoben just an dem Tag, an dem ein Republikflüchtling über die Ostsee in Richtung Freiheit gepaddelt war. Eine absichtslose Koinzidenz, doch ihm wurde Boshaftigkeit unterstellt. So konnte es gehen im sozialistischen Kulturapparat.

Derlei Erfahrungen ließen ihn Ausschau halten, er wollte kreativ arbeiten, vielleicht sogar die eigene Stimme einsetzen, doch die eignete sich leider nicht, wie ihm die Stimmbildnerin der Komischen Oper bescheinigte. Sie riet ihm, sich als Dramaturg oder Regieassistent dort zu bewerben, für ihn, so wird er später sagen, „ein Fingerzeig des Himmels“. Der Rest ist schnell erzählt. Intendant Walter Felsenstein sagt Ja, Martin Schneider beginnt mit Volontärsgehalt im September 1962: 450 Mark Brutto. Das Gehalt steigt in den kommenden Jahren, das Ansehen des neuen Mitarbeiters ebenso, zwölf Jahre bleibt er dem Haus verbunden, reüssiert, wird Spielleiter. Arbeitet mit am Rigoletto, Don Carlos, Eugen Onegin. Und Felsenstein macht vieles möglich, selbst den Umzug des jungen Familienvaters aus einer Hinterhofbleibe mit Außentoilette in eine Zweizimmerwohnung mit fließend Warmwasser. Tochter und Sohn werden geboren, Constanze wird Kostümbildnerin und Designerin, Christoph Schlagzeuger der Rockband Rammstein. Mit deren Musik wird der Vater nie viel anfangen können, doch es freut ihn, dass der Sohn sich immerhin für die Musik entschieden hat.

29 Jahre "Blaubart"

Von Gastspielen ins westliche Ausland kehrt Martin Schneider immer zurück in die DDR. Wegbleiben ist keine Option, zu schwer wiegt die Verbundenheit zur Familie und zur Oper. 1974 wechselt er ans Opernhaus Halle, wird Erster Spielleiter und übernimmt 1978 den Direktorenposten. Felsenstein ringt ihm noch die Zusage ab, weiterhin den „Blaubart“ an der Berliner Komischen Oper als Abendspielleiter mit Gastvertrag zu betreuen. Bis 1992 macht er das. In 29 Jahren erlebt das Stück 369 Aufführungen.

1980 abermals ein Aufbruch: Martin Schneider entscheidet sich für ein Dasein als Freischaffender. Er arbeitet als Regisseur und Hochschullehrer mit Lehraufträgen an der Leipziger Musikhochschule. An der Berliner Musikhochschule Hanns Eisler wird er Professor.

Ein Leben für die Musik, aber auch für vieles andere. Für Freunde, gute Gespräche, die Ostsee immer wieder und auch für eine neue Liebe. Seine erste Frau Brigitte kehrt 1987 von einer Besuchsreise in den Westen nicht zurück, es ist das Ende der Ehe. Am Strand von Ückeritz begegnet er Antje, die acht Jahre jünger ist, aus Cottbus stammt und dort Musikalienhändlerin war. Inzwischen lebt sie in Berlin. Schon in Cottbus hatten ihr Freunde von ihm vorgeschwärmt, sie müsse unbedingt diesen Schneider kennenlernen, er inszeniere gerade am Cottbuser Theater, ein toller Typ. Doch zu einer Begegnung kommt es nicht, erst viele Jahre später schlägt ihrer beider Zeit auf Usedom.

Zwei Schöngeister kommen hier zusammen, erfreuen sich am schlauen Kopf des anderen. Sie machen sogar ein Programm daraus, mit dem sie ab 2000 auf Wanderschaft durchs ganze Land gehen, eine literarisch-musikalische Lesetour, 1400 Mal in 20 Jahren! Literatur, die ihnen in der DDR nicht zugänglich war, saugen sie auf und reichen sie weiter, an ein dankbares Publikum.

Und auch ganz privat reisen sie viel umher, nach Rom, nach Prag und immer wieder an die Ostsee. Zu Hause laden sie zu Liederabenden ein, Schuberts „Winterreise“ beschäftigt Martin Schneider bis zum Schluss. Am 1. März 2020 singt er sie ein letztes Mal.

Mit einem guten Freund orakelt er beim Bier, wer wohl zuerst auf Wolke sieben oder acht sitzt. Fast wird eine Wette daraus. Martin Schneider hätte sie nun verloren. Er stirbt am 22. Januar, verliert gegen den Krebs, der ihn seit acht Jahren nicht in Ruhe ließ. Für seine Trauerfeier wünscht er sich ein Trommelsolo seines Sohnes. Und „Das Lied von der Moldau“ von Brecht und Eisler. Er wollte es noch selbst aufnehmen, doch das hat er nicht mehr geschafft.

[Wir schreiben regelmäßig über nicht-prominente Berliner, die in jüngster Zeit verstorben sind. Wenn Sie vom Ableben eines Menschen erfahren, über den wir einen Nachruf schreiben sollten, melden Sie sich bitte bei uns: nachrufe@tagesspiegel.de. Wie die Nachrufe entstehen, erfahren Sie hier.]

Judka Strittmatter

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