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Nachruf auf Kurt Wanski (Geb. 1922): Mag sein, dass er anderen die Show stahl

Weil er die Chefarztautos in Herzberge mit Ata schrubbte, kam er ins Weißenseer Krankenhaus. Dort lebte er die letzten 40 Jahre. Und malte ein Bild nach dem anderen. Der Nachruf auf einen sehr freien Künstler.

Von David Ensikat

Trauerfeiern sind für die Übriggebliebenen, so war das selbstverständlich auch im Fall von Kurt. Hier konnte man die Trauerfeiernden in zwei Gruppen einteilen: die christlich gesinnten vom St.-Joseph-Krankenhaus, bei denen er die letzten 40 Jahre seines Lebens wohnen durfte. Sie sangen die Christenlieder, die Kurt ebenso wenig hätte mitsingen können wie die zweite Trauergruppe. Das waren die Künstler. Einer von denen trug ein Gedicht vor, eine Ode auf Kurt: Als wir kamen, warst du schon da. / Uralter Berlinischer Adel / mit zerrissenem Strumpf und schon manchen Zahnes bar. / Ein hagerer Ritter ohne Furcht und Tadel. Auch damit hätte Kurt wenig anfangen können.

Aber der Trauerzug von der Kapelle zum Grab, der hätte Kurt gefallen! Da lief nämlich eine schöne Frau vorneweg und spielte Akkordeon. Schade, dass das seine Beerdigung war; sonst hätte er die Mundharmonika rausgeholt, hätte sie vor seinen zahnlosen Mund gehalten und hätte der Sache noch mehr Schwung verliehen. Selbstverständlich hätte er auch einen großen Hut getragen, jede Menge Abzeichen und Anstecker am Jacket, und hätte ihm jemand für seine Darbietung hinterher einen Kaffee und ein Stück Kuchen ausgegeben, dann hätte sich das alles sowieso gelohnt.

Über Kurts erste Lebenshälfte gibt es unterschiedliche Versionen, was daran liegen mag, dass er in unterschiedlichen Stimmungen Unterschiedliches erzählte. Und dass er sich an vieles gar nicht mehr erinnern konnte – oder wollte. Denn er war ein sonniges Gemüt. Nur mangelte es ihm an jener Sorte Intelligenz, die den normalen Mitgliedern unserer Gesellschaft zum Attribut normal verhilft.

Gemeinsam mit seinem Bruder wuchs er in einem Heim auf, kam bei Pflegefamilien unter und erreichte in acht Schuljahren die vierte Klasse. In der Nazizeit wurde er sterilisiert, kam in den Knast, schuftete im Heizkraftwerk und nach dem Krieg als Landarbeiter in Zehlendorf. Es wurden ihm Fleiß und Friedfertigkeit bescheinigt, doch hin und wieder stahl er etwas. Das Prinzip „Eigentum“ ist schließlich auch nur ein Prinzip. Da Kurt Prinzipien gegenüber prinzipiell wenig aufgeschlossen war und man dies für ein Nervenleiden hielt, steckte man ihn seit 1947 in „Nervenheilanstalten“, zunächst nach Wittenau, später nach Herzberge.

Dort sah man ein, dass man diesen lächelnden Mann, der niemals Böses im Schilde führte, nicht wegschließen konnte. Ließ man ihn aber raus, wollte er sich nützlich machen: Er reinigte die Autos der Chefärzte mit „Ata“, das den Dreck gut wegscheuerte und den Lack gleich mit. So kam Kurt nach Weißensee, ans St.-Joseph-Krankenhaus. Denn hier waren sie mit einem aggressiven Patienten so überfordert wie die Kollegen in Herzberge mit dem braven Kurt. Die beiden wurden kurzerhand ausgetauscht.

In Weißensee wurde Kurt ausgiebig untersucht, aktenkundig wurde eine „Oligophrenie mittleren Grades“, ein „besonderer Hang, sich mit blanken Dingen (Abzeichen und dergl.) zu schmücken“, eine so gut wie nicht vorhandene Schulbildung („Hauptstadt der DDR? Weißensee“) sowie ein „entwaffnendes Lächeln“. Außerdem findet sich in der „Exploration des Patienten“ die Gesprächsnotiz: „Freizeitbeschäftigung? – Ich habe immer gezeichnet. Das tue ich gern.“

Sehnsuchtsorte, an denen er womöglich niemals war.

"300 Jahre Preüßen"
"300 Jahre Preüßen"

© Sammlung Klaus Theuerkauf

Um den Geisteszustand von Menschen wie Kurt Wanski zu beschreiben, vergleicht man sie oft mit Kindern. So wenig wissen sie von der Welt, heißt das dann, so klein ist ihre Einsicht in Notwendigkeiten. Wer die Zeichnungen von Kurt Wanski sieht, dem fallen ganz andere Assoziationen ein: So unbefangen sah er auf die Welt, so rein war sein Blick, so unverstellt sein Ausdruck.

Er zeichnete immerzu, hockte in seinem Zimmer auf dem Bett, auf einem Stuhl im Flur der Krankenhausstation, irgendwo auf der Straße, den Malblock auf dem Schoß, Bleistift oder Buntstift in der Hand und bildete ab, was ihm bemerkenswert erschien, eben so, wie er es sah – oder gern gesehen hätte. Über die Jahrzehnte hatte er es zu einer Meisterschaft gebracht, seine Linien waren sicher, die Farben stimmig.

Was er zeichnete? Viele Tiere, Tiger, Hunde – sie sehen bei ihm lieb und freundlich aus. So zähmte er die Bestien. Frauen, immer wieder Frauen, sehr gerne nackt mit zwei tiefschwarzen Dreiecken, eins zwischen den Beinen, eins zwischen den Brüsten. Sehnsuchtsorte, an denen er womöglich niemals war.

Er malte Plakate ab, gern auch Fotos von Schauspielern und Politikern. Da brachte er, wie immer er das gemeint haben mag, zuweilen lustige Dinge zustande: Ein Bild vom alten Fritz mit aufreizend roten Lippen, neben ihm zwei barbusige Frauen, eine dick und eine schlank, darüber der Titel in seiner etwas steifen aber unverkennbaren Kurt-Wanski-Schrift: „300 Jahre Preüßen“. Und drunter wie immer der Name des Künstlers, manchmal schrieb er ihn mit s, manchmal mit z, Wanzki. Hauptsache, jeder sah, dass die Kunst von ihm stammte.

So selbstbewusst war Kurt seit den frühen Achtzigern. Da hatten ihn die Künstler entdeckt und ihm klar gemacht, dass er einer von ihnen war. Einer der jenseits des anerkannten Kunstbetriebes Bilder herstellte, die nicht den Sozialismus zeigten, sondern die Welt. Einige begannen, seine Kunst zu sammeln, sie zeigten sie in Ausstellungen.

Und wie fand er das? „Es war ihm wahrscheinlich nicht so wichtig wie uns“, sagt einer dieser Künstler. „Bei einer Ausstellungseröffnung haben wir eine Bauchtänzerin engagiert. Von der war Kurt begeistert.“ Und er erzählt, dass Kurt gern zu den Vernissagen anderer Künstler kam. Nicht weil er sich für deren Bilder interessierte, sondern weil er selbst schnell im Mittelpunkt stand. Er hatte sich bunt angezogen, mit Ansteckern und Ohrringen behängt, spielte Mundharmonika und breitete am Boden seine eigenen Bilder aus. Für fünf oder zehn Mark konnte man sie kaufen, und sie waren viel bunter und fröhlicher als alles an den Wänden. Mag sein, dass er anderen die Show stahl, aber er meinte es ja nicht so.

Inzwischen würde man sich über den Begriff "krankhaft" streiten.

Was ihm an hohen sozialistischen Feiertagen auch nichts nützte. Es gab eine offizielle Anweisung für Nervenkliniken, dass am 1. Mai und 7. Oktober die Patienten die Häuser nicht verlassen durften. Kein Wahnsinniger sollte den Wahnsinn stören. Aber Kurt wegsperren? Das ging doch nicht. Wo er doch Volksfeste jeder Art so liebte. Selbstverständlich galt für ihn: „Heraus zum 1. Mai!“ Er machte sich schick, nahm ein paar Bilder mit – und wunderte sich über die Ignoranz der Volkspolizei. Als ihn mal wieder eine Schwester vom Präsidium abholen musste, beschwerte er sich bei der Oberärztin: „Dit war’n blöde Heinis. Von Kunst vasteh’n di nüscht, Frau Dokta.“

Mag sein, dass der lange, dürre Kurt mit Ohrringen, Mundharmonika und Tuch am Hut den Eindruck einer Militärparade ein wenig relativierte. Aber wozu gab es denn den Paragraphen 15 Strafgesetzbuch: „Strafrechtliche Verantwortlichkeit ist ausgeschlossen, wenn der Täter zur Zeit der Tat wegen zeitweiliger oder dauernder krankhafter Störung der Geistestätigkeit oder wegen Bewusstseinsstörung unfähig ist, sich nach den durch die Tat berührten Regeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens zu entscheiden.“

Inzwischen würde man sich über den Begriff „krankhaft“ streiten. Muss man aber nicht, da Kurt so etwas gar nicht interessierte. Er hatte im St.-Joseph-Krankenhaus und später im dazugehörigen Seniorenheim sein Zimmer, Schwestern und Betreuer kümmerten sich um sein Wohl. Wenn er tagelang gar nicht oder spätnachts abgerissen und hungrig heimkehrte, waren sie ein wenig streng mit ihm und päppelten ihn wieder auf.

Es gibt einen kurzen Film über Kurt aus dem Jahr 1991. Da tanzt er auf einem Volksfest allein zum Schneewalzer, die Leute starren ihn an wie eine Jahrmarktattraktion, er verbeugt sich, der Beifall ist dünn. Er fährt mit der quietschenden Schubkarre durch die Hinterhöfe von Weißensee, wundert sich: „Wat die Leute allet wegschmeißen, wa?“, bringt das Zeug zum Schrotthändler und kriegt zehn Mark. Er besucht seinen Zwillingsbruder in der Neubauwohnung. Der wirkt wie ein Gegenentwurf zu Kurt: klein, dick und mürrisch. Zusammen spielen sie auf der Mundharmonika das Lied von den Nordseewellen; Kurt hat sie nie gesehen. Er war nie woanders als in Berlin. Zum Schluss zeichnet er ein Bild ab, das in seinem Zimmer hängt, ein Paar am Strand. Bevor er den Hintergrund ausmalt, guckt er auf die Uhr, findet, dass man Kaffee trinken muss, und geht aus dem Bild.

Jetzt ist Kurt gestorben. 90 Jahre alt ist er geworden.

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