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Karin Brodersen (1948-2019)

© privat

Nachruf auf Karin Brodersen (Geb. 1948): Dünkel? Klassenunterschiede?

Am Anfang ein Umzug in die DDR, dann Ausbildungen zur Kinderpflegerin und Kellnerin, Arbeit als Gaststättenleiterin, Umzug in den Westen...

Nichts als ein Päckchen Lametta für den mageren Baum. Ein schwacher Glanz, Weihnachten 1959, das sie in einem sächsischen Kaff feiern, in einem Haus, zugewiesen von den Behörden, in das sie mit nur drei Säcken und einem Korb gezogen sind, übergesiedelt vom Westen in den Osten. Ein Abglanz früherer Zeiten, in der die Brodersens die Flensburger Werft mitbegründeten, dann auf den Meeren unterwegs waren und schließlich auf einem riesigen Bauernhof lebten. Die Weihnachtsbäume waren stets prächtig geschmückt.

Karin wollte nicht weg. Nicht von den Großeltern, nicht aus dem Norden. Aber vom einstigen Wohlstand des Vaters war nichts geblieben. Er war krank und nicht versichert, die Diabetesbehandlung unerschwinglich. Die DDR zeigte sich da großzügiger.

Also musste Karin weg. Neue Landschaft, neue Freunde, erst ein blaues Halstuch und dann ein rotes. Aber sie lebte sich ein. Die adrette Karin, klein und zierlich, die sich nie bekleckerte, im Gegensatz zu ihrer wilden Schwester. Als sie beide, hübsch verpackt in gepunkteten Perlonkleidern, eines rosa, eines blau, am Ofen standen, die eine artig, die andere zappelig, fing naturgemäß nur eines Feuer. Nicht Karins. Allein schon ihr Name. Nobel seine Herkunft im Vergleich zu denen ihrer Geschwister. Ihre Mutter hatte ihn einer Novelle entnommen, Wilhelm Jensens „Karin von Schweden“.

„Du hast zwei Augen und zwei Hände, die kannst du benutzen!“

Und doch ist aus ihr kein Püppchen geworden. Oh, nein. Sie nahm die Dinge in die Hand. „Du hast zwei Augen und zwei Hände“, hatte die Mutter immer gesagt, „die kannst du benutzen!“ Das machte sie; wenn nötig, ging sie halt putzen. Auch noch in einem Alter, in dem andere durch den Park spazieren und die Enten füttern. Dünkel, Klassenunterschiede? Darauf pfiff sie. „Macht es Ihnen nichts aus, Frau Brodersen?“, fragte ein feiner Herr, dem sie die Hemden wusch, noch kürzlich. Sie antwortete: „Ja, was soll es mir denn ausmachen? Ich muss was dazuverdienen.“ Oder dieser Nachbar, der zu Gast bei ihr war und im zierlichsten Ton bemerkte: „Ich trinke nur Champagner.“ Darauf sie: „Dann mische ich Ihnen den Wein mit Sprudel.“

Vielleicht war es auch das Wissen um ihre Herkunft, die Familiengeschichte. Selbst, wenn man das Leben der Vorfahren nicht mehr lebt, so ist es doch eine unumstößliche Basis, eine Sicherheit, die einen nie verlässt. Ich putze, ich wasche fremde Hemden, aber meine Urgroßväter sind über die Meere gefahren.

Nach der Schule zog sie in den Norden, nach Greifswald, und lernte Kinder- und Säuglingspflege. Arbeitete dann jedoch kaum in diesem Beruf, sondern übernahm in Templin das „Clubcafé“. Sie machte eine Kellnerausbildung und erwarb den „Befähigungsausweis für Gaststättenleiter“. So eine Gaststätte war eine Goldgrube in der DDR, zumindest für Naturalien, zumal in der Provinz, die wesentlich dürftiger beliefert wurde als die Hauptstadt. Rinderfilet, ein magisches Wort. Ab und an brachte sie eines ihren Eltern, die auch in Greifswald wohnten.

Da stand sie also in der Küche und kochte und buk und stellte den Gästen die gefüllten Teller auf den Tisch. Die Chefin machte hier alles. „Fräulein“, sprach sie einmal spitz ein Mann an, „hier ist eine Fliege in meiner Suppe.“ Spitz konnte Karin auch: „Ach, da ist sie ja, unsere Summsi.“

Sie heiratete einen Musiker, sie bekam einen Sohn, sie trennte sich von dem Musiker, sie führte ein ganz normales DDR-Leben, und irgendwann hatte sie keine Lust mehr dazu. Sie wollte weg. Der Musiker reiste in den Westen aus, sie beantragte mit ihrem Sohn eine Familienzusammenführung, da sie sich nicht hatte scheiden lassen. Schrieb: „Am 04.03.86 war ein besonderer Tag! Wir zogen von Templin nach St. Ingbert! Ein Koffer, eine Tasche u. einen Rucksack waren alles, was wir noch hatten!“ St. Ingbert im Saarland? Nein, hier auf keinen Fall. Sie zogen nach Berlin.

Das ist der Richtige!

Karin wurde Hausdame im Kempinski. Sie lernte einen Mann kennen. Sie fuhren in den Ferien mit dem „Eastern & Oriental Express“ nach Malaysia. Während der Reise erfuhr sie, dass es in Berlin noch eine andere neben ihr gab. Das war’s.

Zurück in Berlin, brauchte sie jetzt eine Wohnung. Kannte da jemanden, einen Handwerker, den sie um Hilfe bat. Sie trafen sich, sie aßen gemeinsam, sie trafen sich erneut. Das ist der Richtige, sie war sich sicher. Eines Nachmittags klingelte sie an der Tür ihrer Schwester: „Darf ich vorstellen?“, sagte Karin und wies auf den Mann an ihrer Seite, „das ist Herr Brodersen.“ Ein Witz? Nein! Exakt derselbe Name. Deshalb auch, 25 Jahre später, diese Traueranzeige: „Karin Brodersen, geborene Brodersen“.

Herr Brodersen schenkte ihr einen Beagle. Sie wurde noch glücklicher, denn sie liebte Hunde. „Wenn der Hund im Gras lag“, sagt Herr Brodersen, „legte sie sich am liebsten dazu.“ Er fragte, ob sie Graal-Müritz an der Ostsee kannte, sie kam schließlich aus dem Norden. Sie kannte es nicht, er zeigte es ihr, denn da stand sein Campingwagen. So oft es ging, waren sie dann dort: Am Morgen raus, in irgendeiner Hose, irgendeinem T-Shirt, in die Sonne blinzeln und ab zum Strand. Zum Saisonende veranstalteten die Camper immer ein Fest. Essen, Trinken, Band. Doch auf dem letzten herrschte, was den Tanz betraf, eine gewisse Trägheit. Karin stellte sich auf die Bühne: „So geht das nicht!“, donnerte sie. Bis die lahmen Leute in Schwung kamen.

Am 27. Oktober unternahmen sie, die im Westen der Stadt wohnten, eine Stadtrundfahrt durch den Ostteil. In der Oranienburger Straße war Schluss, Karin lief rasch in ein Lokal, um auf die Toilette zu gehen, ihr Mann wartete draußen. Wartete und wartete. Guckte auf die Uhr. Was macht sie nur so ewig? Sich die Lippen anmalen? Aber jetzt, jetzt müsste sie doch endlich fertig damit sein. Sie kam nicht. Er ging ins Lokal, die Wirtin holte einen Schlüssel, sie öffnete die Tür, und da lag Karin.

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