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Jürgen Wittdorf (1932-2018)

© privat

Nachruf auf Jürgen Wittdorf: Unter Männern

Seine Träume handelten von der Anatomie des Menschen, des männlichen Körpers. Ihn wenigstens betrachten können. Ein Nachruf auf Jürgen Wittdorf, geboren 1932.

„Hier herrscht das Experiment und keine steife Routine./ Hier schreit Eure Wünsche aus: Empfang beim Leben persönlich“, rief der junge Dichter Volker Braun den anderen Jungen zu. Aber gerade das wollten die Alten nicht: Versuche, die, weil es nun mal ihre Natur ist, auch scheitern können; Verlangen, wild herausgeschleudert. Denn die Jungen waren, wie Volker Braun schreibt, „bis dahin, außer in der Wirklichkeit, überhaupt nicht vorgekommen“. Also weg mit den festgezurrten Regeln. So war es aber immer, so soll es bleiben, forderten die Alten stur weiter. Soll es nicht, erwehrten sich die Jungen.

Die Bilder zu diesem Begehren schuf der Grafiker Jürgen Wittdorf, neun Holzschnitte im „Zyklus für die Jugend“. Die Jugendlichen stehen bei ihm nicht mehr nur in Arbeitskleidung an der Werkbank und bauen brav den Sozialismus auf. Sie treffen sich einfach, in Jeans und lockeren Hemden, sie stehen so rum, gelehnt an ihre Fahrräder, sie küssen sich. Ein lässiger Paris mit Sonnenbrille und Lederjacke mustert drei Hübsche und hat sich vielleicht schon für die Aphrodite mit den offenen Haaren und der engen dunklen Hose entschieden. Ein James-Dean-Typ hält ein Kind auf dem Arm und ein Einkaufsnetz in der Hand. Ein Mann, perfekt proportioniert, vollkommen nackt, von vorn – welch ein Ereignis. Denn ein entblößter Jüngling, der seine Blöße ohne Anflug von Scham herzeigt, war doch provokanter als eine antike Statue im Museum.

Die Alten sprachen dann auch gleich von „Verwestlichung“, woraufhin die Jungen aufbegehrten. Mit Erfolg. Der Zyklus erschien im Verlag Junge Welt. Und Volker Braun ließ sich zu einem Gedichtband inspirieren.

Ein Schwuler, noch ohne Coming-out

Doch auf diesen Bildern konnte man noch etwas anderes sehen, wenn man wollte, wenn man den richtigen Blick hatte. Da waren nicht einfach nur Männer, da waren Schwule. Oder zumindest Männer, die ein Schwuler gezeichnet hatte. Ein Schwuler, noch ohne Coming-out. In dem Film „Unter Männern – Schwul in der DDR“ sagt Jürgen Wittdorf: „Männer waren mir lieber als Frauen. Das war mir aber nicht so bewusst. Ich hatte ja Freundinnen, hatten wir alle.“ Homosexualität war in der DDR ab Ende der 50er Jahre faktisch straffrei. (Das änderte sich 1968 noch einmal, Ende der 80er Jahre wurde der entsprechende Paragraf ersatzlos gestrichen.)

Doch war die Gesetzeslage nur das eine. Das andere betraf, was in den Köpfen der meisten Leute steckte: tiefe Abscheu. Genug von ihnen ließen es nicht in ihren Köpfen, sondern stießen mit vor Ekel verzerrtem Gesicht all diese Worte aus: widerwärtig, krank, abnorm. Besonders freie Geister griffen gleich ganz durch und gingen zu körperlicher Misshandlung über. Wie soll jemand in einer solchen Atmosphäre seine sexuelle Identität entfalten?

Jürgen Wittdorf verleugnete sich lange Zeit selbst. „Ich doch nicht“, sagt er, als es ihm immer schwerer fiel, sein Schwulsein zu verbergen. „Das war so unaussprechlich schlimm.“ Noch mit 31. Er suchte andere Wege: „Ich lebte meine Sexualität aus, indem ich sehr viel Akt gezeichnet habe.“ Schon als Kind hatte er verblüffend viel Talent gezeigt, er würde Künstler werden, darin lag etwas Unausweichliches. Er ging an die Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig, zeichnete unaufhörlich, saß viel im Zoo, um die Anatomie der Tiere zu studieren, um sie zu malen, für Kinderbücher und Kalender. Aber seine Träume handelten von der Anatomie des Menschen, des männlichen Körpers. Ihn wenigstens betrachten können, mit den Augen die Linien entlanggleiten, ihn skizzieren.

Alle sprachen über seine Arbeiten

Er brauchte Modelle und sprach heterosexuelle Männer an. Ich studiere Kunst und also auch den Körperbau, sagte er ihnen, und sie willigten ein. Dann standen sie vor ihm, in Hemd und Hose. „Zieh dich mal aus“, ermunterte er sie. Sie zierten sich, doch er kannte den Satz, den sie nicht auf sich sitzen lassen würden: „Hab’ dich nicht so mädchenhaft.“ Dieses konstruierte, konventionelle Gefüge. Das er sich eines Tages traute zu durchbrechen. Er streifte nachts durch die Stadt, immer selbstbewusster, aber nicht unbedingt selbstsicher, denn mit Angriffen muss ein Schwuler immer rechnen. „Wenn man Liebe sucht und mit dem Tod bedroht wird, ist es schon nicht so einfach.“

Künstlerisch war es weniger kompliziert. Alle sprachen über seine Arbeiten. Lehrlinge einer Druckerei schrieben „Wir drucken Wittdorf“ auf ein 1.-Mai-Plakat. Die Alten verstanden jetzt auch, dass sie mit ihren verknöcherten Ansichten nicht weit kämen. Er bekam Preise, wurde Lektor an der Universität und dann Meisterschüler an der Akademie der Künste in Berlin.

Er stellte in Polen, Finnland und der Sowjetunion aus. Er übernahm Zeichenkurse. Er kaufte sich ein Haus mit Scheune und Garten in Carwitz. Er lebte 25 Jahre mit Frank, und es zerriss ihn fast, als Frank starb.

Am Ende kümmerten sich Freunde um ihn. Ein Pfleger kam regelmäßig. Dieser Mann, fanden beide nach einiger Zeit heraus, ist jetzt verheiratet mit Jürgen Wittdorfs erstem Geliebten. Ganz offiziell, vor dem Gesetz.

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