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Josif Gofenberg

© privat

Nachruf auf Josif Gofenberg: "Shpil mir dos lidl fun goldenem land"

Mit dem Vater sprach er deutsch, mit der Mutter jiddisch, Ukraininsch lernte er auf der Straße, Russisch in der Schule.

Beeindruckt hat Josif, den alle Josl nannten, die Leute, und irritiert hat er sie auch. Eine Chorprobe brach er ab, weil ihm etwas auffiel: „Mascha, deine Brille steht dir nicht. Tausche sie mal mit Elkes … Nein, die steht dir auch nicht. Gut, singen wir weiter! Gleiche Strophe!“ Konzentriert nahm er das Akkordeon wieder auf und spielte weiter, der Chor stimmte lächelnd ein. Etwa 30 Laiensängerinnen und -sänger versammelten sich um ihn im Klezmerzentrum der Musikschule Fanny Hensel und im Kurs „Lomir ale singen“ an der Jüdischen Volkshochschule.

Der Berufsmusiker aus der Ukraine wurde „Klezmerkönig von Berlin“ genannt; er selbst nannte sich „Balebos“ – jiddisch Hausherr. Das war er bis zum Schluss, alle gehörten sie zur Mishpokhe, zur Familie: seine Bands „Klezmer chidesh“ (das Wunder des Klezmer) und „Klezbanda“, der Chor, und für die Dauer des Auftritts auch das Publikum. Die Leute sollten nicht nur dasitzen und zuhören, sondern lachen, weinen, tanzen. Er rührte sie an und umsorgte sie, wenn es nötig war. Er hielt seine Gruppen zusammen. Zuweilen bestimmte er über sie. Aber wer konnte ihm je böse sein? Neidlos überließ er auch Kollegen die Bühne und kümmerte sich wenig um Äußerlichkeiten.

Ein Klavier kam nicht infrage

Josif Gofenberg kam als einziges Kind von Shoah-Überlebenden in Czernowitz an der ukrainisch-rumänischen Grenze zur Welt. In der Gegend sprachen die Leute vier oder mehr Sprachen. Mit seinem Vater, dem Sproß einer jüdischen Familie aus Wien, redete er deutsch, mit der Mutter, die aus einem moldawischen Shtetl stammte, jiddisch. Ukrainisch lernte er in der Schule und auf der Straße, russisch nur in der Schule. Als er einmal krank im Bett lag, brachte ihm der Vater zur Abwechslung ein Kinder-Akkordeon mit. Ein Klavier kam nicht infrage, dafür war die Familie zu arm. Josl verliebte sich in sein Geschenk und durfte Unterricht an der Musikschule nehmen. Die Mutter überwachte streng seine Fortschritte. Das war ihm manchmal zu viel.

Als die Eltern sich trennten, blieb er beim Vater. Er muss ein energetischer Junge gewesen sein, knuffig, vielleicht ein bisschen rebellisch, umringt von Freunden und Bewunderern. Später auch von Frauen. Und bestens über das Leben informiert. „Man darf nicht bloß Plan A haben, sondern braucht auch B und C.“ Ein bisschen wie Alexis Sorbas. Er heiratete früh, so wie es üblich war, gleich mit 21 nach dem Dienst in der Sowjetarmee. Dort hatte er Tuba in einer Militärkapelle gespielt und eine Band gegründet. 1971 wurde Tochter Stella geboren. Mit ihr verbrachte er viel Zeit. Aber er liebte nicht nur sie, sondern alle Kinder, und die Kinder liebten ihn. Er nahm sie gern auf den Arm, meckerte nicht, bespaßte sie mit Witzen.

Als Elektriker hielt er es in der Fabrik nicht lange aus und ergatterte eine Stelle als Musiker im damals besten Restaurant von Czernowitz, dem „Dnestr“. Dort blieb er mehr als 20 Jahre, arbeitete mit Kollegen aus der ganzen Sowjetunion zusammen. Sie spielten Unterhaltungsmusik, auch jiddische, obwohl das offiziell nicht gern gehört wurde. In Czernowitz lebten bis zur Unabhängigkeit der Ukraine 1989 immer noch um die 15 000 Juden; vor dem Krieg waren es dreimal so viele. Die Stadt war und ist stark davon geprägt.

Israel kam für seine Frau nicht infrage, auch Amerika war kein Sehnsuchtsort

Josl absolvierte ein Fernstudium zum Chorleiter. Als der geliebte Vater starb, es war die Zeit, als in Deutschland die Mauer fiel, wanderte er aus. Ein neues Leben sollte beginnen, der Tochter sollte es besser gehen. Shpil mir dos lidl fun goldenem land. Israel kam für seine Frau nicht infrage, auch Amerika war kein Sehnsuchtsort. Josl konnte noch etwas Deutsch, also packte er Auto und Anhänger voll und fuhr mit Frau, Tochter und deren Mann ins wiedervereinigte Berlin.

Dort landeten sie mit anderen jüdischen Auswanderern aus der Sowjetunion im Übergangslager in Hessenwinkel. Sie nahmen Kontakt zur Jüdischen Gemeinde auf und besuchten einen Deutschkurs. Seinen österreichisch-jiddischen Akzent verlor Josl nie. Schon nach ein paar Tagen bekam er sein erstes Engagement beim Channukafest. Er hatte Glück, wurde wieder gebucht, machte sich vor allem mit der Hilfe von Irene Runge vom Jüdischen Kulturverein einen Namen als Klezmer- und Unterhaltungsmusiker. Als Dozent in der Jüdischen Volkshochschule lernte er Galina, eine jüdische Deutschlehrerin aus Moskau, kennen und trennte sich nach 27 Jahren Ehe von seiner Frau. Scheiden ließ er sich nicht, er sorgte weiterhin für sie.

Mit Galina zog er nach Tiergarten und kümmerte sich mit um ihren kleinen Sohn Michail. Zusammen reisten sie viel, besuchten oft Josls Mutter, die nach Israel ausgewandert war. Mit dem Chor fuhr er immer im April nach Sylt zur Probenwoche. Seine alte Heimat, Czernowitz, mied er. Lieber schaute er nach vorn, entdeckte seine „Jiddishkeit“ anders und neu, und half etlichen Deutschen, sich der jüdischen Kultur zu nähern. Dafür bekam er 2020 das Bundesverdienstkreuz.

Jeden Freitag zum Schabbat schickte er Freunden, Kollegen und Bekannten Grüße. An diesem Karfreitag nicht. Da war er auf der Intensivstation. Seit Ende Januar klagte er über Atemnot und Schwäche. Nun entdeckten die Ärzte, dass seine Herzklappen von Bakterien befallen waren. Samstag operierten sie, er bekam eine Blutvergiftung. Am Ostermontag, mitten im Pessach, starb er. Er hatte eine siebte CD geplant, sechs CDs von ihm mit jüdischen Liedern gibt es. In einem heißt es: Oy Yosl! Mayn khayes geyt mir azhe oys nokh dir – Das Herz will brechen vor Sehnsucht nach dir.

[Wir schreiben regelmäßig über nicht-prominente Berliner, die in jüngster Zeit verstorben sind. Wenn Sie vom Ableben eines Menschen erfahren, über den wir einen Nachruf schreiben sollten, melden Sie sich bitte bei uns: nachrufe@tagesspiegel.de. Wie die Nachrufe entstehen, erfahren Sie hier.]

Maria Hufenreuter

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