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Ingeborg Müller-Graf

© privat

Nachruf auf Ingeborg Müller-Graf: Willenlos war sie nicht

Ihr Vater ließ sich chauffieren, sie lernte mit 18 selbst zu fahren. Ihre Ehe aber war ganz traditionell... ihre Kinder glauben, sie war glücklich.

Von Maris Hubschmid

„Sind’s die Augen, geh’ zu Mampe, gieß’ dir einen auf die Lampe, kannste allet doppelt sehn, brauchste nich’ zu Ruhnke geh’n!“ So sagte man in Berlin, als der Optiker, der mit dem Spruch „Sind’s die Augen, geh zu Ruhnke“ warb, noch nicht in einer dänischen Kette aufgegangen war, und in „Mampes Guter Stube“ am Ku’damm Literaten wie Joseph Roth einkehrten, der dort der Legende nach seinen „Radetzkymarsch“ vollendete. Ingeborgs Vater war Leitender Direktor bei der Firma, die den klebrigen, zur Hälfte aus Bitterorange bestehenden Kräuterlikör „Mampe Halb und Halb“ produzierte. Für diesen Posten war die Familie aus dem katholischen Rheinland ins protestantische Berlin gezogen, von Koblenz in die Hauptstadt des Magenbitters. Ingeborg war schnell eine leidenschaftliche Berlinerin und wollte nie woanders leben.

Dann begannen die Bombennächte. Bei jedem Fliegerangriff musste sich Ingeborg im Schutzbunker übergeben. Ihre Eltern wollten sie besser behütet wissen und schickten sie aufs Land, nach Brandenburg. Als die Russen kamen, da stellte sich der Onkel, so ist’s überliefert, schützend vor ein paar Mädchen. Ingeborg musste mit ansehen, wie er erschossen wurde.

Der Vater holte sie zu Fuß ab, nach Hause – Lichtenberg. Und eröffnete ihnen bald: Das mit den Besatzungszonen gefalle ihm nicht. Bei Nacht und Nebel siedelte die Familie nach West-Berlin, nach Schmargendorf um. Ingeborg machte ihr Abitur in der Luisenstiftung in Dahlem, ein Umstand, dem sie nicht zuletzt ihr hervorragendes Englisch und Französisch verdankte.

„Bei euch ist ja die Hölle los!“

Sie ging nach Wales. Ein paar Monate nur, doch die Freundin, die sie dort fand, blieb ihr ein Leben lang. Unzählige Briefe wurden gewechselt. Viel später, als Ingeborg Kinder hatte, fuhr die Tochter über Ostern nach England, wohnte der Sohn der anderen während eines Schüleraustauschs bei ihnen. Besuche und Gegenbesuche, Ferien auf dem „Narrowboat“. Und wer weiß, wie lange sie das Weltereignis vor ihrer Haustür noch verschlafen hätten, hätte nicht das Telefon geklingelt, England am Apparat: „Bei euch ist ja die Hölle los!“ Das war der 9. November 1989.

Zunächst aber absolvierte Ingeborg eine Lehre als Buchhändlerin bei „Kiepert“ am Ernst-Reuter-Platz. West-Berlin war eine Insel, aber im Laden war die Freiheit grenzenlos! Dann, zwei einschneidende Erlebnisse, quasi zeitgleich: Ingeborg heiratete und um ihre Welt wurde eine Mauer gebaut. Die Hochzeit feierten sie am 12. August 1961, bis spät in die Nacht. Und während sie drinnen wieder und wieder auf die Vergrößerung der Familie anstießen, riegelten draußen Polizisten die Straßen ab. Die Festgesellschaft diskutierte: Sollten die Verwandten aus dem Osten besser hierbleiben? Sie brachen dann doch auf, und als sie am Morgen erwachten, war zwischen ihnen und den frisch Vermählten Stacheldraht.

Burkhard hatte sie im „Akademischen Seglerverein“ an der Havel kennengelernt. Er war Diabetiker vom Typ 1, was damals weit größere Erschwernisse bedeutete als heute. „Bis 40 schaffst du es“, prognostizierte ein Arzt, 88 wurde er. Es wäre nicht gegangen ohne Ingeborg, die für regelmäßige Mahlzeiten sorgte, auf die Einhaltung eines genauen Zeit- und Speiseplans pochte. Wenig Nudeln und Reis! Fleisch, Kartoffeln – und viel Gemüse. Sie spürte seine Unterzuckerung vor allen anderen, drohende Wutanfälle, Entgleisungen. „Iss eine Banane, sonst kippst du um!“ Immer behielt sie recht und ihren Mann im Auge.

Bei aller Aufopferung

Eine Tochter, ein Sohn. Ihnen allen galt ihre ganze Aufmerksamkeit. Ingeborg nahm sich zurück, aber in der Überzeugung, ihren Platz gefunden zu haben. Burkhard und Ingeborg: Es war eine traditionelle, eine gute Beziehung. Die Kinder glauben, sie war glücklich.

Bei aller Aufopferung – willenlos war sie nicht, im Gegenteil. Japan, Moskau, der Grand Canyon: Sie wollte das sehen, also fuhren sie hin. Ihre zweite Heimat fand sie auf einem Bauernhof im Schwarzwald, wo die Kinder ähnlich alt waren und die Hausherrin ähnlich zupackend. Kein freier Tag blieb ungenutzt, rauszukommen aus der Enklave. Ingeborg lenkte das Auto selbst, hatte es, ermutigt vom Vater, schon mit 18 gelernt, der bedauerte, immer chauffiert zu werden als Likördiplomat. Bretterte auch die längsten Strecken runter, nahm es in Berlin mit jedem Taxifahrer auf. Genoss es, Stadtführerin zu sein. Nie versäumte sie, den Besuchern zum Abschluss auch den Grunewald und den Wannsee zu zeigen, die Pfaueninsel. Berlin grünt so grün!

Für alles hatte sie einen Plan. Die pubertierenden Kinder schätzten das nicht immer. Dann wurde sie Großmutter, drei Enkeltöchter! Die eine betreute sie, während die Mutter arbeitete, allzeit bereit, sie von der Schule abzuholen, Buletten zu braten. Ingeborg verschenkte mit Vorliebe Bücher, lud statt der Kinder nun eben ein Enkelkind ins Auto, um ins Kinzigtal zu fahren. Als sie dement war, übernahmen andere das Steuer. Außer Frage stand, dass die Ferien stattfinden mussten, damit Ingeborg unter dem Nussbaum sitzen und den Gesprächen lauschen konnte.

Für eine Untersuchung sollte sie ins Krankenhaus. Das Virus war schon da.

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