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Ingeborg Belgardt (1922-2019) mit ihrem Sohn Helmut im Jahr 1945.

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Nachruf auf Ingeborg Belgardt (* 13. Januar 1922): Wieder keine Tränen. Jeder sah, wie schlecht es ihr ging

Ingeborg klagte nie, sprach nie über den vermissten Mann, den Sohn in der Grube. In dieser Zeit hatte doch jeder irgendwen verloren.

Auf Wunsch des Vaters hieß sie Ingeborg, Ingeborg Uhmann. Alle Vokale der deutschen Sprache sollten in ihrem Namen vorkommen. Die Wege zu Fuß waren lang, auf den Dächern trocknete Baumwolle. Schule, Familie, Turnverein. So vergingen die ersten Jahre in Böhmisch Kamnitz, wo jeder jeden kannte. Irgendwie kannten sich auch Ingeborg und Max. Sie verlobten sich, als das Jahr 1942 anbrach. Im Dezember heirateten sie, Max in deutscher Uniform, aber „uk“ gestellt, was bedeutet, dass er in seinem Werk unabkömmlich war und nicht an die Front musste.

Kurz vor dem Ende des Krieges dann aber doch. März 1945. In Jänschwalde besuchte ihn Ingeborg mit dem kleinen Helmut. Als der Lärm der Geschütze näher kam, schob sie den Kinderwagen durch das zerbombte Dresden zurück nach Hause. Max sah sie nie wieder.

Raus aus dem Sudetenland, das über Jahrhunderte die Heimat ihrer Familie gewesen war! Zwei Stunden, jeder einen Koffer, dann los. Mit der Mutter, Großmutter, einem Kind an der Hand und einem im Bauch. Im August kam Wolfgang auf die Welt, zwei Monate später verließ er sie wieder. Am Grab sagte Helmut: „Nun liegt er in der Grube und kann nicht mehr heraus.“

Manchmal sagte Ingeborgs Mutter: Ach, das Leben ist so schwer. Ingeborg klagte nie, sprach nie über den vermissten Mann, den Sohn in der Grube. In dieser Zeit hatte doch jeder irgendwen verloren. Und so tat sie, was alle taten. Den Schmerz behandeln, als wäre er nicht da. Abends zu Bett gehen, morgens aufstehen, Tag für Tag, bloß nicht verzagen.

Mit falschen Namen und Papieren schafften sie es 1947 über die grüne Grenze in den Westen, nach Düsseldorf, an den Niederrhein. Bessere Jahre warteten auf Ingeborg – auch wenn sie wieder Abschied nehmen musste. Helmut kam für eine Weile zu den Großeltern, dann in ein Heim für elternlose Kinder, damit seine Mutter aus dem Nichts etwas aufbauen konnte. Sie fand Arbeit beim Amtsgericht und ein kleines Zimmer. Leicht fiel ihr das Leben ohne Helmut nicht, aber was war damals schon leicht. Nach einem halben Jahr fand sie mit ihrer Schwester eine Wohnung. Und ihr Sohn kam zu ihr zurück.

Eine zweite Chance aufs Glück

Auch der letzte Zug mit Heimkehrern aus Russland kam ohne Max an. 1956 wurde er amtlich für tot erklärt. Wenige Jahre später kam vom Roten Kreuz die Nachricht, dass Max Schmidt, geboren am 4. August 1914, auf den Kriegsgräberfriedhof von Halbe umgebettet worden sei.

Ingeborg wollte eine zweite Chance aufs Glück, der Familienrat war einverstanden. Erwin Belgardt aus Elbing war drei Jahre jünger, ein Vertriebener wie sie. Er besuchte Ingeborg, brachte ihrem Sohn das Radfahren bei. Klar war aber: Sie erzieht Helmut, nicht er.

Ingeborg Uhmann wurde Ingeborg Belgardt. Sie hatte Ideen, er war dankbar dafür. Lass uns ins Schauspielhaus! In die Oper! Wie wäre es, wenn du den Führerschein machst? Helau!, rief Ingeborg im Frühjahr. Sie wollte doch nicht im Gestern leben. Mit dem Auto fuhr das Ehepaar zu Verwandten in Deutschland, mit dem Bus nach Calella. Österreich, Italien, das Rote Meer. Ihre Familienalben waren Reisebücher.

Aus Helmut sollte etwas werden, deswegen sprach sie eine ältere Lehrerin an, die aus ihrer Heimat stammte. Die bereitete den Jungen ein Jahr lang auf die Aufnahmeprüfung fürs Gymnasium vor. Nach dem Abitur zog er in die Ferne, wurde Student in Berlin, Ehemann, Vater. Die jungen Eltern arbeiteten beide, Ingeborg und Erwin kamen regelmäßig, hüteten den Enkel, halfen bei der Renovierung des Hauses. Bis zum großen Streit.

Das passte zu ihrem Sternzeichen

Helmut war als Gründungsrektor einer Hochschule kaum zu Hause. Als Ingeborg sah, wie seine Frau schlecht über ihn vor den Kindern sprach, schritt sie ein. So nicht! Später schrieb Ingeborg ihrer Schwiegertochter einen Brief zur Versöhnung. Nach der Antwort kam sie für Jahre nicht nach Berlin. Das passte zu ihrem Sternzeichen, Steinbock.

Doch nichts währt ewig, 2002 entschieden Ingeborg und Erwin: Wir ziehen zu Helmut und seiner neuen Gefährtin nach Brandenburg. Der Umzug fiel ihr auch mit ihren 80 Jahren leicht, sie freute sich auf die Familie in der Nähe und auf den kleinen Garten. Vier wundervolle Jahre, dann starb ihr Erwin. Wieder keine Tränen, kein Verzweifeln. Doch jeder sah, wie schlecht es Ingeborg ging. Warum geht er zuerst?, fragte sie einmal.

Nachbarn trafen Ingeborg nachts auf der Straße, als sie noch einmal mit dem Hund rausgingen. Was sie mache? Na, einkaufen gehen. Als sie nicht zum Familienessen kam, rief ihr Sohn an. Woher sollte sie das denn wissen, wenn ihr niemand Bescheid sage? Dann die Angewohnheit, ihre Tasche auf den Herd zu stellen. Helmut warnte sie: Wenn du an die Knöpfe kommst! 2013 geschah es, der Rauchmelder, den Helmut kurz davor montiert hatte, löste Alarm aus. Nachbarn bargen Ingeborg aus der Küche, noch bevor die Feuerwehr eintraf. Wieder zog sie um, dieses Mal in eine Demenz-WG.

In ihren letzten Jahren lebte sie wieder in Böhmisch Kamnitz, als junges Mädchen. Wieso die Gegenwart erleben, die trübe Realität, wenn man sich in eine schönere Welt träumen kann? Da war ihre Mutter am Leben, der Krieg nie geschehen. Die düsteren Erinnerungen waren fort, und Ingeborg konnte friedlich einschlafen.

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