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Ines Hagemeier (1966-2016)

© Thommy

Nachruf auf Ines Hagemeier (Geb. 1966): Die Tanzmaus

So wurde sie in ihrer Absturzkneipe genannt, weil sie nie ruhig stand - im Körper einen Cocktail aus Psychopharmaka und Alkohol. Der Nachruf auf eine Kreuzberger Szene-Existenz.

Ihre Kreuzberger Lieblingskneipe am Heinrichplatz wird im Kiezjargon „Goldener Schuss“ oder „Geisterbahn“ genannt, schicke Kaffeevariationen gibt es hier nicht. Man zeigt der Schweinewelt draußen den Stinkefinger, vereint in Rausch und Realitätsflucht. Diese Welt hatte sie nach dem Besuch beim Therapeuten entdeckt. Hier nannte man sie „Tanzmaus“, weil sie wie aufgezogen irrlichterte, nie ruhig stand, im Körper einen Cocktail aus Psychopharmaka und Alk. Hier fragte kaum einer mal, woher ihre blauen Flecken kamen. Unfall, Gewalt, sie hätte das auch nicht beantworten können. Trotzdem lachte sie gern und herzergreifend und konnte immer noch die Leute um den Finger wickeln.

Die Abgründe ahnte, wer sie lange genug kannte, die alten Freunde aus Ostwestfalen, die auch hier verkehrten. Sie waren froh, dass Ines überhaupt noch lebte. Mit gut gemeinten Ratschlägen brauchten sie es gar nicht zu versuchen. Da waren schon Sozialarbeiter und Suchttherapeuten gescheitert. Geblieben waren ein gesetzlicher Betreuer, eine Erwerbsunfähigkeitsrente und eine kleine Wohnung an der Hochbahn. Da prostete sie vom Balkon dem internationalen Partyvolk zu, das in U-Bahnzügen Richtung Exzess und Technostrich vorbeirauschte. Für sie keine Option mehr, der tägliche Einkauf im Discounter war Herausforderung genug.

Der Sound der "Neubauten"

Aufgewachsen in Herford, gerät ihr Leben nach dem Tod des Vaters aus der Bahn. Reitstunden sind Vergangenheit. Die Mutter muss die Autowerkstatt retten, die beiden Brüder nerven nur. Ines schmeißt das Gymnasium, kifft und beginnt eine Ausbildung als Industrieschneiderin. Mit Mode und Kreativität hat das wenig zu tun. Ines trägt Schwarz, die Haare ausrasiert, eine coole New-Wave-Frau, die am Wochenende im Kultschuppen „Forum Enger“ abhängt. Hier läuft düsterer Sound von den „Sisters of Mercy“ oder den „Einstürzenden Neubauten“ aus Berlin, deren Frontmann Blixa Bargeld sie zeitlebens vergöttert. Ihr Freund, einige Jahre älter und abgebrühter, tickt mit Drogen. Die Purpfeife mit Hasch versöhnt beide mit allem, was ihnen an Leben und Zielen fehlt.

Wie viele ihrer Freunde gehen sie nach West-Berlin in eine Welt voller illegaler Kicks. Ines wohnt in einem dunklen Loch in Schöneberg, das „Ex & Pop“ gleich vor der Haustür. Da verkehren ihre Heroen Nick Cave und Blixa Bargeld, die Nächte gesättigt von Speed und Wodka. Die Tage bleiern, die Fabrikjobs trostlos. Lange Zeit montiert sie Klobürsten im Akkord.

Ein neuer Kick muss her. Heroin katapultiert das Paar auf einen anderen Planeten, der erste Druck erzeugt eine ungekannte Wärme. Die folgenden isolieren nur noch. Einige aus der alten Heimat-Clique gehen auf Distanz zu den „Schildkröten“, wie sie wegen ihrer lahmen Motorik und der starren Gesichtszüge genannt werden. Gelacht wird nicht mehr, die Heizung läuft auf Anschlag, um die aufsteigende Kälte des Entzugs zu dimmen.

Der Mauerfall: eine große Verunsicherung. Berlin wird ihnen unheimlich, sie ziehen zurück in die Heimat. Den Stoff gibt es längst auch hier, sie machen ein Business daraus. Schnell langt es für einen Geländewagen, mit dem sie die Droge zu alten Bekannten expedieren, die zerstört in ihren Kinderzimmern hausen. Knallhart, kalt, berechnend, stets im Takt des eigenen Suchtdrucks. Ines fliegt auf, der Richter ist gnädig. Bewährung, Krankenhaus, danach Methadon.

Der Traum, Künstlerin zu sein

In der Kleinstadt spricht man über sie. Also zurück nach Berlin, der Partner ist nun Ex. Wieder Kontakt zu alten Jugendfreunden, in deren Wohnung sie mühsam vom Methadon runterkommt, finstere Musik hört und Blixa Bargelds Buch „Stimme frißt Feuer“ fast auswendig lernt, um nicht durchzudrehen. Sie will sich neu erfinden, nennt sich Azarah Bel und will jetzt Kunst machen. Mit Kopftuch wirkt sie wie eine Wiedergängerin von Elvira Bach, der Ikone der „Neuen Wilden“. Sie malt abstrakt und experimentiert mit Collagen aus Textilien. Harlekine, Fabelwesen, mal ausdrucksstark, mal am Rande vom Kitsch. Wird sie es aus dem Sumpf schaffen? Die Kunst ist es ja nicht nur, Kunst zu schaffen. Man muss sie auch unter die Leute bringen. Das gelingt ihr nicht. Der Traum ist nach ein paar Jahren ausgeträumt.

Es folgen Beschäftigungsprogramme, mal mit wenig Sinn, oft mit gar keinem. Die Jahre vergehen, die alte Clique hat sich irgendwie ins Leben begeben mit Kindern und Jobs. Sie treibt. Ein neuer Partner schlägt sie, beklaut sie, dann stalkt er sie. Ihre Wohnung ist nun ein angstbesetzter Ort. Alles zerbricht, langsam, irreparabel. Epileptische Anfälle machen die neue Arbeit in einer Kirche, wo sie Lebensmittel an Bedürftige ausgeben soll, unmöglich. Sie spart Geld für ein Konzert der „Neubauten“ – das zur bitteren Enttäuschung wird. Die machen jetzt in Hochkultur, von Underground keine Spur. Die alten Zeiten sind vorbei. Immer wieder die Psychiatrie, immer wieder kommt sie raus, aber Heilung gibt es nicht.

Die Mutter sucht nach ihr, auch die Heimat-Clique vermisst sie. Sie macht die Wohnungstür nicht auf, geht an kein Telefon. Ines stirbt an Nierenversagen, allein.

In der Urne die letzte Reise in die Heimat. Zur Beisetzung kommt niemand. Die aus der alten Szene sind längst fort oder auch schon tot.

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