zum Hauptinhalt
Ilse Höppner (1922-2020)

© privat

Nachruf auf Ilse Höpner: Abends immer "Guten Abend, gut' Nacht"

So richtig Noten lesen konnte sie nicht. Doch sie kam zum Rias-Kammerchor.

Nachts kamen die Bomber. Überall in Europa wurde gekämpft, Unschuldige und Unerwünschte ermordet. Und in Berlin ging das Leben weiter, auch bei Ilse. Sie nahm Tanzunterricht. Im Winter fuhr sie Schlittschuh, und wenn sie im Sommer schwimmen ging, wenn sie sich treffen und jugendlichen Schabernack treiben wollte, war das neue Schwimmbad am Olympiastadion der angesagte Ort dafür. llse war oft mit ihrer Clique hier. Da war Hildegard, ihre beste Schulfreundin. Oder Erich, ihr späterer Mann. Sie war 17, er 15. Erste romantische Blicke, erste Küsse. Witzig war die Ilse, man konnte gut mit ihr lachen, überhaupt hatte sie diese Ausstrahlung. Wie wenn man eine Lampe anmacht.

Ilse war ein Moabiter Mädchen, der Tiergarten war ihr Park. Zu Hause war es zu eng. Die kranke Schwester, um die sich alles drehte. Der Vater, der nicht mehr arbeiten gehen konnte, aber umso strenger mit ihr war. Die Mutter, die versuchte, all das auszugleichen. Die noch strengere Großmutter und die Tante, die eine glühende Hitler-Anhängerin war.

Dreimal wurden sie ausgebombt. Jedes Mal musste die Familie sich wiederzusammensuchen. Einmal stolperte Ilse in der Altonaer Straße über Leichen. Ein anderes Mal war sie gerade in der U-Bahn, als die Bomben fielen, das Wasser kam, sie mussten durch den Tunnel fliehen. Ilse wusste nicht, ob das, worauf sie da trat, Gepäckstücke oder Menschen waren. Diese Erlebnisse ließen sie nicht mehr los. Eine Angst hatte sich in sie gefressen: später beim Über-die-Straße-gehen oder bei ihrer Tochter, wenn die einfach mal was ausprobieren wollte.

Dann ist sie Sängerin geworden

Ihr größter beruflicher Schritt bleibt ein Geheimnis. Wie war sie auf die Idee gekommen? Eigentlich war Ilse Chemikerin. Erst machte sie eine Ausbildung als Technikerin während des Krieges, kurz danach einen Abschluss als Ingenieurin. Dann hat sie all das, die Chemie, die Reagenzgläser, hinter sich gelassen und ist Sängerin geworden. Sie konnte auch ganz gut singen, aber zu sagen, dass das ihre größte Leidenschaft gewesen wäre, dass sie darin eine Berufung gesehen hätte, wäre zu viel. Richtig Noten lesen konnte sie auch nicht. Dennoch bewarb sie sich beim neuen Rias-Kammerchor. Anfang 1949 war das. Es war üblich, dass Radiosender ihre eigenen Chöre hatten. Wie durch ein Wunder, keiner weiß warum eigentlich: Ilse wurde genommen.

Der Tag war durchgetaktet: erst zu Hause üben, dann mit den anderen Sängern proben und schließlich die Auftritte abends oder am Wochenende. Entweder sie standen vor den Mikrofonen, die ihre Stücke direkt ins Radio übertrugen oder vor einem Publikum, das ihnen nach dem letzten Takt applaudierte.

Lampenfieber, Premieren, schicke Kleider, sich ein bisschen wichtig fühlen, das war von nun an Ilses Welt. Und immer musste sie auf ihre Stimme achten, musste sie trainieren und schonen gleichermaßen. Spanienreisen gab es deswegen nicht, dafür Urlaub auf der Insel Norderney. Das war besser für die Stimmbänder.

Erich kam aus der Gefangenschaft zurück – und war nicht mehr der alte. Unvernünftig war er geworden, wie ein Jugendlicher, auf den man sich nicht verlassen kann. Dennoch heirateten sie, dennoch bekam Ilse eine Tochter. Weil das mit dem Stillen nicht klappte, und eine Unterernährung drohte, musste das Baby ins Krankenhaus. Zwei Monate blieb es dort. Die meiste Zeit ohne Mutter. „Als du wiederkamst, konntest du schon lächeln“, sagte Ilse später zu ihrer Tochter. Je mehr Ilse wusste, wohin es mit ihrem Leben geht, desto mehr entfernte sie sich von Erich. Bis sie sich trennten.

Martin, war auch ein Sänger. Und auch er hatte sich gerade getrennt, darüber sprachen sie, so fanden sie zueinander. Lieb war er, kümmerte sich um den Haushalt, kochte und machte die meiste Zeit, was sie sagte. Er hatte das absolute Gehör und musste deswegen nicht so viel üben wie sie. Ilse wiederum kämpfte im Chorvorstand dafür, dass die Sängerinnen und Sänger fest angestellt wurden. Bisher hangelten sie sich von Verlängerung zu Verlängerung. Ilse schmiedete die Pläne und zog die Fäden, schrieb Politiker an, verhandelte und gab Stellungnahmen heraus. Die beiden Männer des Vorstandes machten, was Ilse sagte und waren für das Grobe, das Rumbrüllen in den Verhandlungen zuständig.

[Die anderen Texte unserer Nachrufe-Rubrik lesen Sie hier,
weitere Texte des Autors, Karl Grünberg, lesen Sie hier]

Ilse war zwiespältig. Sie konnte strahlen. Man konnte tolle Abende mit ihr verbringen, mit ihr spielen und quatschen. Sie feierten viele Partys, wo der Alkohol in Strömen floss und Onkel Rudi betrunken in der Buddelkiste schnarchte. Zu Hause aber musste alles funktionieren, musste alles seine Ordnung haben, musste es Zack auf Zack gehen. Wer im Weg stand, wurde weggeschoben. Da konnte sie sehr streng oder ungeduldig werden. Wenn Ilse der Meinung war, dass ihre Tochter eine Strafe verdient hatte, musste die sich schon mal den Mund mit Seife auswaschen oder Dresche einstecken. Abends aber, wenn sie ihre Tochter ins Bett brachte, sang sie ihr immer „Guten Abend, gut Nacht“ vor.

Norderney wurde zu ihrem Sehnsuchtsort. Martin und sie kauften sich dort eine Wohnung für die Ferien. Erst waren sie nur im Sommer da, später zogen sie ganz hin. Der Strand, die Luft, die Gezeiten. Sie fanden Freunde dort, nach und nach lebten sie sich ein, wurden Inselbewohner.

2006 starb Martin und ließ sie allein. Der Supermarkt brachte ihr das Essen, der Bankier wöchentlich das Geld. Alle waren von der charmanten Dame eingenommen. Abends legte sie ihre Patiencen, spielte am Computer oder schaute aus dem Fenster auf die Wellen. Bis sie fiel und ihre Tochter eine schwere Entscheidung fällen musste. Ilse sollte nach Berlin. Da saß sie dann auf der Fähre, ganz in sich gekehrt, sprach kein Wort, schaute nicht aufs Meer und nicht zurück. Ein paar Jahre lebte sie noch in einem Pflegeheim. Für die einen war sie die Liebreizende, die Pflegerinnen waren von ihr begeistert. Aber ihrer Tochter war sie böse. Kaum noch ein Wort sprach sie mit ihr.

Nachdem sie gestorben war, fuhr ihre Tochter mit der Asche an die Nordsee, fuhr mit dem Schiff raus und übergab Ilse dem Wattenmeer. Dorthin, wo Martin schon auf sie wartete.

Zur Startseite