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Hermann Berthy

© privat

Nachruf auf Hermann Berthy: Macht euch locker!

Er hatte eine Bar. Als er sie verkaufte, sicherte er sich den Platz auf der Bank davor. Von da aus betrachtete und kommentierte er die Welt.

Hermann war immer da. Wirklich immer. Ob Sommer oder Winter, ob kalt oder warm, ob Regen oder Schnee. Die Haare weiß und wallend, der Bart rund und voll. Auf dem Kopf trug er entweder eine schwarze Baskenmütze oder eine bunte Bolivien-Mütze mit Bommel und Zöpfen. Dann waren da noch der wehende Schal und die langen Mäntel oder Jacketts. Er wirkte wie ein in die Jahre gekommener, leicht verwirrter Dichter. Jeden Tag saß Hermann also auf seiner hölzernen Bank, direkt neben dem Eingang zu einer Bar, und trank billigen, selbst mitgebrachten Rotwein aus einem Havana-Club-Glas.

Sein Platz, die Bar, befindet sich in der Görlitzer Straße in Kreuzberg. Die Bar ist wichtig, denn sie hatte ihm einmal selbst gehört. 20 Jahre war sie Treffpunkt für die Verrückten und Nicht-so-Verrückten. Bis Hermann zu alt wurde und verkaufte. Sein Sitzrecht auf der Bank hat er per Handschlag zugesichert bekommen. Hier durfte ihn niemand verjagen.

Die Nachbarn grüßte er, sie grüßten ihn, er rief ihnen gern zu, dass sie sich lockermachen und immer lachen sollten. Die Frauen nannte er „Frau Doktor“ oder „Frau Professor“. Er erkundigte sich, wie es ging und was das Leben so machte. Am liebsten berichtete er von der Weltlage und was er in der Zeitung gelesen hatte. Er erschreckte die Kinder, indem er plötzliche Laute von sich gab oder Grimassen schnitt. Manchen war seine Art zu schräg, zu laut. Manchmal beschwerte sich einer in der Bar und meinte, dass man die Polizei rufen solle.

Doch der Barchef winkte ab. Hermann gehöre dazu, und das hier sei ja nun mal Kreuzberg. Immer wieder versuchte der Barchef, Hermann einzuladen. Komm rein, ich mach dir was. Doch Hermann lehnte ab. Bis auf ein einziges Mal, den Termin hatten sie Wochen im Voraus ausgemacht, da ließ er sich das feine spanische Essen und den guten Rotwein auftischen. Noch Wochen später hat Hermann davon geschwärmt.

Zwei Volvos. Oder sogar drei?

Redet man mit den Nachbarn, dem Barchef, mit früheren Mitarbeitern und Gästen von Hermann, setzt sich sein Leben wie ein Puzzle zusammen. Ein Puzzle mit großen Lücken, und nicht immer ist klar, was stimmt und was nicht. Gewohnt hat er gleich um die Ecke, im Hochparterre. Wenn er seine Wohnungstür öffnete, müffelte es im Hausflur, weil er so viel rauchte. Die Kinder fanden die Tür und den alten Mann gruselig und faszinierend. Zuletzt war Hermann mit seinem Damenrad unterwegs, mit einem Korb hintendrauf. Das steht immer noch an der Laterne festgeschlossen.

Früher hatte er einen Volvo gehabt. Nein, zwei Volvos. Oder sogar drei? Einen Campingwagen soll er auch gehabt haben und ein Häuschen in Schweden. Jetzt aber der Reihe nach. In Oranienburg geboren. Mit der Mutter nach Westberlin geflohen, bevor die Mauer gebaut wurde. Eine Schwester soll er auch noch gehabt haben. Irgendwann ist er Vater geworden, einen Sohn hatte er und eine Tochter. Doch wo die heute sind? Weder soll er der beste Vater noch der beste Ehemann gewesen sein, gelinde ausgedrückt. Bei der Gasag hat er gearbeitet. Doch als was genau? Irgendwann dann, Mitte der 80er muss das gewesen sein, hatte er von allem genug und kündigte. Er wollte nach Moskau. Vom einbalsamierten Lenin erhoffte er sich einen Augenöffner, eine Inspiration, was er mit seinem restlichen Leben anfangen solle. Überhaupt hatte Hermann einen Russland- und Kommunismus-Fimmel. Er machte Urlaub in Kuba, soll mal in der DKP gewesen sein, las die Tageszeitung „Junge Welt“. Doch Lenin rührte sich nicht, versagte Hermann den Fingerzeig. Enttäuscht kehrte er nach Berlin zurück.

Da zog im Eckhaus ein Kinderladen aus. Das war seine Chance. Er machte, warum auch immer, ein Café auf und nannte es „Mir“. Das ist russisch und heißt „Frieden“.

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Es gab wilde Partys bis spät in die Nacht. Bands traten auf. Das „Cafe Mir“ wurde ein richtiges Kreuzberger Szene-Lokal. Morgens ging es dann gleich weiter mit einem Frühstücksbuffet, ab halb zehn war die Terrasse gerammelt voll. Besonders im Sommer, wenn die Sonne so schön auf die Ecke schien. Zum Frühstück gab es, was eben da war. Hermanns Logistik war nicht immer die beste. Seine Belege und Abrechnungen stopfte er in irgendwelche Jutebeutel. Wer was bestellt hatte, wurde selten notiert, Vertrauensbasis. Lange ging das gut, doch irgendwann begannen Gäste das auszunutzen, bezahlten zu wenig oder gar nicht und rannten einfach davon. Es war ein jahrelanges Auf und Ab. Kellnerinnen und Köche kamen und gingen. Nur Hermann war jeden Tag im Laden, 20 Jahre lang. Dann hatte er genug und verkaufte. Und machte als selbstständiger mobiler Würstchenverkäufer weiter. Als WM war und die Spiele auf großen Leinwänden gezeigt wurden, machte er den größten Umsatz und stellte sogar Hilfskräfte ein.

Alt geworden, ließ er sich vor seiner alten Bar nieder und wurde zum Kiezkauz. Die einen empfanden ihn als frech, manche als sexistisch. Andere fanden, dass er gut zuhören konnte und emphatisch war. Doch richtig befreundet war niemand mit ihm. Der Barchef vermutet, dass Hermann im Grunde einsam war. Zu seinem letzten Geburtstag brachten sie Bouletten und stießen mit ihm an. Da sah er schon nicht mehr gut aus. Jemand machte ihm einen Tee und meinte, er solle besser mit dem Trinken aufhören.

Und irgendwann dann blieb sein Platz leer.

„Hermann war einfach immer da. Man wusste, man kommt in die Straße, und dann war da Hermann und grüßte und das war gut. Hermann war ein Stück Zuhause, Heimat“, sagt eine Nachbarin.

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