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Heiner Hütsch (1940-2017)

© privat

Nachruf auf Heiner Hütsch (Geb. 1940): Die Welt ist weit, und weiter noch in einem Kopf

Heiner Hütsch war ein großer Ermunterer. Doch niemand sollte das mit Milde verwechseln. Seine Strenge verfolgte immer einen Sinn: Verantwortung. Ein Nachruf.

Er könnte den Wecker an die Wand werfen. Dieses Schrillen, in dieser Herrgottsfrühe, früher noch als sonst, normalerweise steht er in letzter Sekunde auf, isst rasch eine Schüssel Haferflocken und setzt sich dann auf sein Fahrrad, aber da gibt es diesen Jungen, der wahrscheinlich gar keinen Wecker besitzt, ein Dauerschwänzer, dessen Zukunft, wenn man ihn nicht von der Haustür bis zum Schultor begleitet, düster aussieht. Seinetwegen muss er jetzt noch eine halbe Stunde früher raus.

Einerseits ist Heiner Hütsch der große Ermunterer, der seinen kostbaren Schlaf opfert; andererseits sollte niemand Motivation mit Milde verwechseln. Aber seine Strenge verfolgt immer einen Sinn: Verantwortung. Zum Beispiel fordert er die Schüler auf, sich selbst zu bewerten. „Versucht einen unverstellten Blick auf euch“, sagt er, „dann vergleichen wir eure Einschätzung mit meiner. So könnten wir zu einem umfassenderen Bild jedes Einzelnen kommen.“ Oder die Idee mit dem Klassenbuch: Die Schüler haben es zu führen, es von Unterrichtsraum zu Unterrichtsraum zu tragen, jeden Vermerk, jede Note zu notieren. Dem Direktor der Schöneberger Georg-von-Giesche-Schule ist das dann aber alles ein bisschen zu viel Verantwortung, und er verbietet die Klassenbuchsache. Dafür bemerkt er später einmal scherzend: „Ich bin gern Schulleiter unter Heiner gewesen.“

Heiners Energie ist erstaunlich. Dazu seine Hartnäckigkeit. Allein was sein Fach, Arbeitslehre, betrifft, das er überhaupt erst an der Schule eingeführt hat. Da wird während des Unterrichts nicht ein wenig geredet, ein wenig gebastelt, da werden stundenlang Schrottplätze nach brauchbaren Teilen durchsucht, die er dann in der Werkstatt zusammenschweißen und nieten lässt, doch nichts, was hinterher in irgendeiner Ecke verschwindet, sondern Lampen, Kerzenständer, Regale, nützliche Dinge, die man auch verkaufen kann, wodurch die Schüler zusätzlich eine Vorstellung von ökonomischen Prozessen bekommen.

Dass er Lehrer werden will, weiß Heiner von Anfang an. Obwohl seine eigene Schulzeit nach acht Jahren erst einmal endet, in seiner Familie studiert niemand, nicht, weil es verpönt gewesen wäre, sondern weil es so ist, in den Fünfzigerjahren, in der westfälischen Kleinstadt, mit vier Geschwistern, einem Garten, Hühnern, Schweinen, Schafen. Er lernt Elektriker, wird im Betrieb von den älteren Mitarbeitern „kleiner Meister“ genannt, denn er ist etwas schneller und schlauer als die anderen, steht immer ein wenig außerhalb, wie zu Hause, denkt Dinge, die der Rest der Familie nicht denkt, alles CDU-Wähler, bis auf einen Onkel, einen SPD-Mann, der ihn zu einer Veranstaltung mit Willy Brandt mitnimmt. Und wenn er dann hoch oben auf den Leitungsmasten steht, um irgendwas zu reparieren und dabei über das Land schaut, weiß er, dass er das nicht bis ans Ende seiner Tage machen möchte.

Also los. Zuerst nach Essen fürs Fachabitur, weiter an die Pädagogische Hochschule nach Bonn für Mathe, Physik und Arbeitslehre, dann, jetzt zusammen mit Hiltrun, nach Berlin, an die Giesche-Schule.

Doch besteht die Welt ja nicht aus Westfalen, Bonn und Berlin. Die Welt ist weit, und weiter noch kann sie sein in einem Kopf. An einem Sommertag 1961 sitzt Heiner in der Fatih-Moschee in Istanbul, angelehnt an eine Säule. Ein elfjähriger Junge spricht ihn an: „Sprechen sie Deutsch? Ich lerne Deutsch, ich möchte kein Geld, ich zeige ihnen die Moschee.“ – „Gern“, sagt Heiner, und sitzt später inmitten von Ahmets Familie und trinkt türkischen Kaffee.

Vier Jahre darauf lädt Heiner Ahmet nach Westfalen ein, im Umschlag zum Einladungsbrief liegen 120 Mark für die Fahrkarte. Familie Hütsch probiert zum ersten Mal schwarze Oliven. Heiner ist ganz Lehrer. Er bringt Ahmet das Fotografieren bei und das Autofahren, zuerst auf Feldwegen, dann auf Bundesstraßen und Autobahnen, ohne Fahrerlaubnis, diese kleine Formalität interessiert Heiner nicht die Bohne.

Diese schöne Verrücktheit hat etwas mit Frechheit zu tun

Verrückt, ein schönes Wort, mit dem man sorgsam umgehen muss. Denn diese schöne Verrücktheit hat etwas mit Freiheit zu tun. „Los, hoch mit euch“, ruft er mitten auf Reisen seiner Tochter und seinem Sohn zu, hält am Waldrand, und die beiden klettern auf das Dach des VW-Busses, bevor die Fahrt unter Freudengeschrei weitergeht. Und wenn sie dann im schwedischen Sommerhaus ankommen, dürfen die Kinder ihre Spaghetti ausschließlich mit den Händen essen.

In Schweden wird Heiner zu Dracula, vor dem sie kreischend davon laufen, der ihre Kleider in der Nacht an durchsichtigen Angelschnüren an Bäume hängt und die sie dann am Morgen mit wohligem Grausen in der Luft schweben sehen. Oder die Sache mit der Sauna: Er will unbedingt eine, und zwar eine mit runden Wänden. „Du hast eine Macke“, sagen die anderen. Am Ende steht die Sauna, und sie hat runde Wände.

Oder das Haus, das sie in Schöneberg kaufen. Ein Gemeinschaftsprojekt, das sich über zehn Jahre hinzieht, nicht eingerechnet die Zeit der Suche nach dem perfekten Objekt. Heiner ist von den Angeboten nie ganz überzeugt, also wird weitergesucht, immer weiter. Dann, als es das Haus gibt, Wochenende für Wochenende bauen, verputzen, schrauben, hämmern alle zusammen, Streit und Versöhnung, bis die behaglichsten Wohnungen entstehen, plus Töpfer- , Web- und Metallwerkstatt, plus Druckerei und Fotolabor.

Ahmet ist inzwischen Teil seiner Familie, genau wie er ein Teil von Ahmets Familie ist. Sie reisen zu zweit durch die Türkei, schlafen im Freien, fahren nicht über die Tigris-Brücke, das kann ja jeder, sie fahren durch den Tigris, sprechen über Politik und Glauben. Heiners Verhältnis zur katholischen Kirche ist ein distanziertes, diese zähen Gespräche mit dem Pfarrer, der ständig ausweicht, der kaum eine Frage hinreichend beantwortet. Heiner schreibt an Ahmet: „In den letzten Jahren habe ich viel im Koran gelesen.“ Seinen Schülern sagt er: „Wir schauen uns die Suren jetzt mal genauer an“, und fährt dann mit ihnen in ein anatolisches Dorf, um bei einem Schulbau zu helfen.

Er ist Lehrer, wo er geht und steht. Die Freunde rollen manchmal mit den Augen, denn er betätigt sich auch gern in der „Erwachsenenbildung“. Aber wirklich wichtig sind die Kinder, nicht nur die deutschen. 2002 sitzt er mit einem afghanischen Freund in einer Kneipe und dann fällt so ein Man-müsste-mal-Kneipensatz. „Man müsste etwas für das Land, für Afghanistan machen.“

Unter Apfelbäumen verhandeln sie mit den Dorfältesten

Man müsste – wir machen. Sie gründen einen Verein, fahren 2004 nach Kabul. In der Stadt spricht es sich wie ein Lauffeuer herum: hier sind Deutsche, die wollen uns helfen, eine Schule zu bauen. Entscheidend ist, dass es nicht eine von außen aufgedrängte Aktion wird. Sie holen sich die Zustimmung vom Mullah und von den Dorfältesten. Kohna Khomar, wo die Schule gebaut werden soll, liegt vier Stunden von Kabul entfernt. Biblische Landschaft, Wüste, Berge. Verrostende Panzer. Die Dorfältesten setzen sich mit den beiden unter Apfelbäume und verhandeln, dann steigen sie mit ihnen einen Hügel hinauf und stecken den Grundriss für das Gebäude mit Steinen ab.

Zurück in Berlin, müssen Partner für die Finanzierung gefunden werden, ein langwieriger Prozess. Die „Unicef“ steigt in das Projekt ein. Heiner baut mit Schülern in der von ihm gegründeten Afghanistan-AG Modelle aus Keramik und Styropor. Ein Architekt zeichnet unentgeltlich Entwürfe. Am 1. November 2008 wird die „Zandra-Womens-School“ eröffnet, benannt nach Sandra, einem Mädchen der Georg-von-Giesche-Schule, das im Frühling desselben Jahres mit 17 von einem Lkw überfahren wurde.

Seit drei Jahren, seit 2005, arbeitet Heiner nicht mehr als Lehrer. Offiziell. Er ist trotzdem ständig in der Schule. Er führt Konfliktgespräche, ist Drogenkontaktlehrer. Zuhause hört er Mahalia Jackson und Mikis Theodorakis und Mussorgski. Er plant weitere Reisen nach Kabul. Er geht jeden Abend erst gegen zwei, drei ins Bett. Die Energie scheint nicht nachzulassen.

Obwohl, ganz ist sein Herz nicht in Ordnung. Und irgendetwas stimmt auch nicht mit seinem Kopf, mit dem Kurzzeitgedächtnis. Manchmal ist er geradezu verwirrt. Demenz, sagen die Ärzte. Nein, denkt Hiltrun, das ist es nicht. Die richtige Diagnose wird gestellt, als es fast schon zu spät ist, Herpes im Gehirn. Er erholt sich ganz gut. Dann die zweite Diagnose, Krebs.

Er geht über die Fassungskraft, der Tod, er ist eine Zumutung, an das Denken, das Fühlen, die Freude.

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