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Hartmut Fest (1938-2019)

© privat

Nachruf auf Hartmut Fest (Geb. 1938): Nicht zu wenig abbekommen!

Er hatte diesen Drang nach Bewegung, nach Aktion. Und wollte auf keinen Fall zu kurz kommen. Am Ende lernte er noch etwas Wichtiges dazu.

In Istanbul lernte er, wie sich Freiheit anfühlt. Dort machte er sein Abitur an der deutschen Schule. Eine alte weißrussische Haushälterin kümmerte sich darum, dass er und seine Schwester Essen auf den Tellern hatten. Ansonsten lag ihm die Stadt zu Füßen. Zusammen mit seinen Freunden angelte er am Bosporus oder fuhr mit der Fähre auf die Prinzeninseln, machte Lagerfeuer am Strand, blieb die Nacht über dort, schlief im Sand. Oder sie gingen tagelang wandern. Und die Märkte erst, hier lernte er gutes Gemüse und guten Fisch von schlechtem zu unterscheiden, lernte feilschen und türkisch sprechen. Auf Fotos aus seiner Schulzeit sieht man ihn inmitten von Mädchen, die ihn bewundernd anschauen, die voller Hingabe mit ihm tanzen.

Hartmuts Eltern lebten Stunden entfernt, in Izmir. Dort arbeitete sein Stiefvater am deutschen Generalkonsulat. Hartmuts leiblicher Vater war im Krieg in Polen verschollen. Kennengelernt hatte er ihn kaum. Seine Mutter brachte die Kinder alleine durch. Flucht aus Stettin im letzten Lazarettzug, Fliegerangriffe, schreckliche Szenen. Sein Stiefvater sorgte dann für Bildung und Wohlstand. Er war es auch, durch den Hartmut erfuhr, dass die Welt größer ist als Deutschland, und dass man vor dieser Welt keine Angst zu haben brauchte. Im Gegenteil.

Mit seiner Mutter war es schwieriger. Er schrieb ihr liebevolle Postkarten, doch sie konnte diese Liebe nicht frei erwidern. Sie glaubte, die Gabe des zweiten Gesichts zu besitzen. Sie berief sich stets auf eine höhere Kraft, riet Hartmut zu diesem, warnte ihn vor jenem, diskutieren war unmöglich.

Mit Anfang 20 wurde er krank, hustete und spuckte sich die Lunge aus dem Leib. Tuberkulös lag er im Sanatorium inmitten der schönsten Schweizer Berglandschaft. Frischluftkur. Ein junger Mann, schwarzes dichtes Haar, so drahtig, dass es ihm zu Berge stand. Groß war Hartmut auch, fast zwei Meter, und sportlich, voller Tatendrang.

Doch jetzt durfte er nur liegen, in die Ferne schauen, einatmen und wieder ausatmen. Fast wäre er gestorben.

Harvard, FDP, Netzwerke

Umso heftiger sein Drang, sich zu bewegen, als er es wieder durfte. Als er in der Nähe von Paris lebte, raste er mit dem Rennrad durch die Gegend. Einen separaten Tacho hat er sich gekauft, um bergab Rekorde aufzustellen. Mit dem Gleitschirm flog er durch die Lüfte. Mit seiner Jolle flog er über die Meereswellen – seiner sechsjährigen Tochter übergab er das Steuer und hängte sich über die Reling, damit der Wind das Schiff nicht umwarf.

Erst studierte er Volkswirtschaft, dann Politik. Arabisch lernte er, Französisch und Englisch sowieso. Und arbeiten ging er. In einer Bleistiftfabrik und in Bierzelten, bei Haribo am Band. Ein Jahr war er in den USA, in Harvard mit einem Fulbright-Stipendium. In der Schule war er mehr schlecht als recht durchgekommen, jetzt gab er alles. Er trat in die FDP ein, ruderte in einem Studentenclub, promovierte.

Und er arbeitete an seinen Netzwerken. Es finden sich Briefe, adressiert an Menschen mit Einfluss, in denen er höflich und ausgewählt und dennoch wie beiläufig auf seine Person und seine Qualifikationen aufmerksam macht. Einstieg im Wirtschaftsministerium, Aufnahme in den Rotary-Club. Mit dem Wirtschaftsminister ging es auf eine Delegationsreise nach Saudi-Arabien, später wurde er deutscher Entsandter bei der OECD in Paris. Hart konnte er sein, sich und anderen gegenüber. Eine sehr direkte Art hatte er, Dinge auszusprechen, auch unbequeme, und seiner Meinung treu zu bleiben, selbst gegenüber Ministern, wenn er ihre Vorschläge unsinnig fand. Arbeiten bis zum Umfallen konnte er auch. Angst hatte er, zu wenig abzubekommen, auf der Arbeit, aber auch beim Kuchen, den er nicht teilen wollte.

Er war 24 und sie 20. Sie waren so richtig ineinander verguckt, Gerti und Hartmut. Es gibt Liebesbriefe, die die Tochter fand, aber schnell wieder weglegte, zu intim. Sie waren ein schillerndes Paar, beide groß, gutaussehend, viele Partys fanden bei ihnen zu Hause statt. Sie war erst Staatsanwältin, dann erfolgreiche Künstlerin, verdiente manchmal mehr als Hartmut. Zwei starke Charaktere, die unter Strom standen, und die oft kollidierten, sich Verletzungen zufügten. Zwei Kinder bekamen sie, einen Jungen und ein Mädchen. Die erlebten ihren Vater ambivalent: Gut war es, wenn sie draußen waren, auf dem Meer, im Wald, auf den Märkten, da verlor er seine Anspannung. Schlecht war es, wenn er so hartherzig wurde. Ein „Ich hab’ dich lieb“ kam kaum über seine Lippen.

Dann wieder gibt es eine Reihe von Menschen, derer er sich angenommen hatte. Der Junge aus der Nachbarschaft, dessen Eltern sich nicht richtig kümmern konnten, für den er ein Ersatzvater wurde. Jüngere Kollegen, die er unterstützte. Neuankömmlinge im Rotary-Club, an deren Meinungen er wirklich interessiert war. Freundschaften konnte er halten, pflegte sie, nahm sich Zeit, hatte ein Ohr.

Karin hieß seine zweite Frau. Sie sah ihn in einem Café sitzen, mitten in Kreuzberg, mit dem „Economist“ in der Hand. Sie war beeindruckt, sprach ihn an. Sie kamen ins Gespräch, kein Smalltalk, bei ihm sowieso nie. Eine obdachlose Frau kam vorbei, fragte nach Geld, Hartmut gab ihr einen Kaffee aus. Dann verabschiedete er sich, zog davon, um zwei Minuten später wiederzukommen und sich mit Karin zum Essen zu verabreden. Jeder zahlte für sich, da bestand er drauf.

Sie wurden ein Paar, aber jeder wohnte weiter in der eigenen Wohnung, zahlte für sich. Abends oft die Frage: Gehen wir zu dir oder zu mir? Mit Karin wurde Hartmut entspannter und rücksichtsvoller. Jetzt lernte er, den Kuchen auch wirklich in der Mitte zu teilen, damit jeder gleich viel abbekam. Und er konnte sagen: „Ich hab’ dich lieb.“

Hartmut bekam Alzheimer. Bevor sein Geist sich auflöste, bestellte er alle Freunde zu sich, einen nach dem anderen, zwei Wochen lang und verabschiedete sich von ihnen. Dann legte er sich hin und starb, selbstbestimmt und zu Hause, mit dem Blick auf das Wasser des Kreuzberger Engelbeckens.

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