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Harry Kurt Kurschat

© privat

Nachruf auf Harry Kurt Kurschat: Der Mann mit dem Pendelstil

Seine meisten Gegner waren größer, kräftiger und älter als er. Der Nachruf auf einen kleinen Arbeiter aus Neukölln.

Richtig viel hat Harry gemacht. Zuletzt stand er bei Daimler am Band. Aber keine Nachtschichten, auch wenn er da mehr verdient hätte. Für ihn, seine Frau, die Tochter und die Zweizimmerwohnung mit kleinem Garten hat es gereicht. Davor war Harry Fernfahrer. Tagelang war er auf der Piste, durchhalten konnte er wirklich. Einmal hat er seine Tochter mitgenommen. Sie aßen Haifischflossensuppe aus der Dose, schliefen in der LKW-Koje. Das hat Spaß gemacht, erinnert sie sich. Auch wenn ihr Vater nicht wie sonst Quatsch gemacht hat, sondern still und konzentriert auf die Straße achtete. Außerdem war er mal kurz Vermessungstechniker für den Bezirk Neukölln. Gelernt hatte er Autoschlosser; gleich nach dem Krieg war das.

Und Harry war berühmt. Ein bisschen zumindest. Adenauer hatte ihm die Hand geschüttelt und ein englischer Premierminister, dessen Namen heute kaum einer kennt. Zeitungen berichteten über Harry, manchmal lauerten ihm Fotografen auf. Als er heiratete, gab es ein Foto von ihm und seiner Frau in der Zeitung. Harry war nämlich auch Boxer. Kaum ein Kampf, den er verlor. Der kleine Harry. Freundlich. Bescheiden. Quecksilbrig. Flink. Taktisch klug. Fair und ehrlich. So beschrieben die Reporter ihn. Der Arbeiter aus Neukölln, der sich hochboxte, Silbermedaille bei Olympia, dreimal deutscher Meister, 1953, 1954 und 1956.

Nur 1,64 Meter war er groß. Dass das aber auch wirklich immer wieder gesagt und geschrieben werden musste, ging ihm irgendwann auf die Nerven. Ansonsten war Boxen sein Leben, 17 Jahre lang. Los ging es 1947. Harry hatte sowieso Lust auf Bewegung. Er tanzte, er schwamm, er sprang Saltos vom Sprungturm ins Wasser, und er machte Gymnastik bei den „Neuköllner Sportsfreunden“. Als die Alliierten den Boxsport wieder erlaubten, fragte ein Trainer ihn, ob er sich das nicht vorstellen konnte, und Harry konnte. Tagsüber schraubte er an Autos rum, abends trainierte er, am Wochenende kämpfte er.

Wich aus, steckte ein

Und er siegte und siegte. Hunderte kamen, um ihn kämpfen zu sehen. Seine Gegner waren in der Regel größer, kräftiger, älter als er. Das glich Harry mit seinem „Pendel-Stil“ aus, wie es ein Reporter bezeichnete. Er pendelte immer mit dem Oberkörper hin und her und wich so den Schlägen blitzschnell aus. In den ersten zwei Runden ließ er die Gegner immer erst mal machen. Wich aus, steckte ein. Studierte derweil ihre Stärken und Schwächen. Wartete ab, bis sie sich verausgabt hatten. Dann griff er an, schnell und klug. Die Leute liebten ihn. Der Underdog, der dann doch immer gewann.

Sein Vater war ein Linker, musste in der Nazizeit untertauchen, später wanderte er in die DDR aus. Kontakt zu Harry hatte er nie. Seine Mutter zog ihn alleine groß. Kreuzberg, Gneisenaustraße, da wohnten sie. Immer wieder musste sie wegen ihrer Tuberkulose für Monate ins Krankenhaus. Harry wurde herumgereicht, war bei Verwandten und im Kinderheim. Eine harte Zeit. Die Schule mochte er nicht, weil die Lehrer keinen Spaß verstanden. Ständig setzte es Prügel, wegen eines Witzes. Nur Mathe fand er toll. Harry sah sich als Beschützer seiner Mutter. Er war der, der alles organisierte, der auf Hamsterfahrt ging, damit Essen im Haus war.

Harry rauchte nie, trank äußerst selten, große Gelage waren nicht seins. In die Tanzschule ging er, der Stepptanz, Fred Astaire faszinierten ihn. Freitagabends warf er sich in seinen Anzug, und ab ging’s in die „Neue Welt“ an der Hasenheide, wo eine richtige Kapelle aufspielte und Harry die Mädchen zum Tanz bat.

Marianne war acht Jahre jünger. Und wollte gar nichts von ihm. Doch er tanzte mit ihr einen Walzer und das harmonierte schon mal ganz gut. Harry war anscheinend gleich in sie verliebt. Er wollte sie wiedersehen. Er wollte sie nach Hause bringen. Doch sie wollte nicht. Da lief er einfach in fünf Meter Abstand hinter ihr her, um sicherzugehen, dass sie auch zu Hause ankam. Immer wieder sahen sie sich in der „Neuen Welt“, immer wieder forderte er sie auf. Höflich war er, galant und hartnäckig. Irgendwann ließ sie sich erweichen. 1960 heirateten sie. 1966 kam die Tochter auf die Welt. Arbeiten gehen sollte Marianne nicht, Harry würde schon für sie sorgen.

Er hatte immer eine Meinung, die er auch sagte, und eine Vorstellung, wie was sein sollte. Wenn ihm was passte: „Jo“, wenn nicht: „Nö“. Und da ging er nicht von ab. Damit musste man zurechtkommen, daran konnte die Tochter aber auch wachsen. Wollte sie etwas, musste sie dafür einstehen.

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Erst mal aber erzählte er ihr selbst ausgedachte Geschichten, sang ihr ein Lied nach dem anderen, wenn der Weg nach Hause zu lang wurde. Stolz war er auf sie, dass sie so gut in der Schule war, obwohl er das nie von ihr verlangte. Für sie kletterte er über den Zaun zum Ententeich und holte Kaulquappen, die sie dann großzogen. Zusammen schauten sie die alten Komödien im Fernsehen und lachten sich schief. Harry führte dann selbst eine Slapstick-Nummer nach der anderen auf. Als sie in die Disco wollte, erlaubte er es nur, wenn sie mit dem letzten Bus wieder heimkam. Er stand dann an der Haltestelle und eskortierte sie nach Hause.

Harry joggte weiter seine täglichen Runden. Sprang noch als 70-Jähriger den doppelten Salto vom Dreier. Ging mit Marianne schwofen auf der Trabrennbahn. Ansonsten kümmerte er sich um seinen sehr schmalen Garten. Der Rasen war nicht so akkurat wie der der Nachbarn, Blumen gab es kaum. Denn Harry liebte Bäume, so viele wie möglich wollte er haben. Ein kleiner Wald wuchs auf den paar Quadratmetern. Wenn die Nachbarn sich wegen fehlender Sonne beschwerten, murrte er, kletterte nach oben, kappte ein paar Spitzen, dann war wieder Ruhe.

Und er liebte Vögel. Hatte Bücher, erkannte sie an den Stimmen, stellte ihnen Futter und Wasser hin. Eine Drossel kam jeden Tag, landete auf seiner Hand, machte kleine Kunststückchen und – so schien es – unterhielt sich mit ihm.

Auch ein Harry wird alt. Erst die Demenz, dann der Nierenkrebs. Die Reihenfolge war gut, so vergaß er, dass er krank war und eigentlich Schmerzen hatte. Ein Pflegebett wollte er nie haben, irgendwann kam doch eins, eine Nacht lag er darin, am nächsten Tag war er gestorben.

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