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Günter Schulz

© privat

Nachruf auf Günter Schulz: „Er war keine Hilfe, aber er hat sie immer angeboten“

Machen statt Reden: Plötzlich war er in ihrem Leben, ihr "Ersatz-Papi". Ein Nachruf als Erzählung einer schwierigen Beziehung

Ein halbes Jahr nach seiner Beerdigung will sie doch noch etwas sagen. Will sein Leben nachzeichnen und damit auch ihr eigenes, nach dieser Trauerfeier ohne Kerze, ohne Bild, Musik. Dass sie damals nicht aufgestanden ist und über den Mann gesprochen hat, der sie viele Jahre ihrer Kindheit und Jugend begleitet hatte, das wirft sie sich noch immer vor. Vielleicht verband die junge Frau eine Art Hassliebe zu ihrem Stiefvater, wobei sowohl Hass als auch Liebe als Begriffe schon zu groß scheinen. Eine schwierige Beziehung, manchmal eng, manchmal weniger. Und am Ende existenziell.

Günter Schulz ist noch ein Kind, als seine Mutter mit ihrem Kurschatten durchbrennt. Nie wieder nimmt sie Kontakt zu ihren Kindern auf. Günter bleibt zurück mit seinem jüngeren Bruder, um den er sich kümmert, und dem Vater, der trinkt und die Kinder schlägt.

Mit 18 Jahren nimmt Günter seinen Bruder bei der Hand und verlässt die elterliche Wohnung. Er kümmert sich um den Jüngeren, macht eine Ausbildung bei Wertheim und findet doch die Zeit, sich zu verlieben. Nur wagt er nicht, ihr seine Gefühle zu offenbaren, sie bandelt mit einem anderen an, bekommt zwei Kinder. Jahre später erfährt Günter von ihrer Trennung. Diesmal fackelt er nicht lange.

„Und plötzlich war er in unserem Leben“, erzählt die Stieftochter. Acht Jahre ist sie damals, und sie genießt die Zeit mit dem „Ersatz-Papi“. Er unternimmt viel mit den Kindern, fährt das Mädchen drei Mal die Woche zum Ballett, am Wochenende zu Wettkämpfen. Großzügig ist er, was sich gut mit seiner Kaufsucht verträgt. Sagt die Mutter: „Ich glaub’, mein Bügeleisen ist kaputt“, fährt Günter kurz in seine Wohnung, wo mehrere lagern, originalverpackt. „Hast du mal ’ne Stichsäge?“ „Hast du mal ein Schleifset?“ Günter hat alles da. Die Mutter äußert Lust auf Florida-Eis – er düst mit seinem Motorroller nach Spandau und holt Florida-Eis. Er macht lieber, als dass er redet. Bei Tisch wird gegessen, nicht gesprochen oder rumgehampelt. An seinem Helfersyndrom verzweifelt die Mutter. Versteht nicht, warum er immer wieder losmuss, sein Bruder kann doch selbst einkaufen.

Die Kämpfe beginnen

Die Stieftochter pubertiert, die Kämpfe beginnen. „Das Verständnis einer Mutter ist da größer als das eines Ziehpapas.“ Einmal, mit 15, leiht sie sich sein Auto, eine Spritztour mit einem Kumpel, stellt es zurück und will Günter, der ahnt, was geschehen ist, weismachen, irgendjemand hätte es wohl kurzzeitig entwendet. Es folgt eine mehrstündige Predigt: Sowas Verantwortungsloses! Wie konntest du nur? Was hast du dir dabei gedacht? An diese Standpauken, in denen er sich ständig wiederholte, erinnert sie sich gut. „Ich weiß übrigens, dass du rauchst“, sagt er, selbst Raucher. „Ist nicht schlimm. Aber wir werden dich nicht unterstützen, du kriegst kein Geld für Zigaretten.“ Der aufmüpfige Teenie, der korrekte Stiefvater: „Irgendwann wurde Günter für mich zum roten Tuch.“

In diesen Jahren trennen sich die Eltern. Nicht wegen der Kinder, sondern wegen Schulz’ Unlust, sich zu binden. Die Mutter will heiraten und zusammenziehen, er sträubt sich. „Wenn die Kinder raus sind.“ Als sie es dann sind, behält er seine eigene Wohnung. Er muss sich zurückziehen können.

Dann lernt sie einen anderen kennen. Vergewissert sich nochmal bei ihrem Schwager, ob sie noch auf ein richtiges, gemeinsames Leben mit Günter hoffen solle? „Du kennst ihn“, antwortet der Bruder. „Wenn es ernst wird, haut er ab.“ Sie entscheidet sich für den anderen. Als es auch dort später kriselt, steht Günter wieder auf der Matte. Doch er bekommt keine zweite Chance, es bleibt beim freundschaftlichen Kontakt. Die große Liebe – dahin. Es vermasselt zu haben, habe ihm den Lebensmut geraubt, erfährt die Stieftochter von seiner besten Freundin auf der Beerdigung.

Eine hilfsbereite Nervensäge

Dafür wird seine Beziehung zur Stieftochter wieder enger. Sie ist inzwischen eine junge Frau, Angestellte, Ehefrau, Mutter. All das, was Schulz ihr nie zugetraut hatte. Er sei so stolz darauf, was aus ihr geworden sei, das habe er nie gedacht, sagt er. Sie sehen sich jetzt wieder öfter.

Er war ein hilfsbereiter Mensch, sagt sie, aber auch eine Nervensäge. Für alle und jeden ist er da, ungefragt. Erwähnt sie, am Wochenende einen Schrank aufbauen zu wollen, steht er dann mit dem Werkzeugkasten in der Tür. Dabei ist er handwerklich völlig unbegabt. Aber sie will ihn nicht vor den Kopf stoßen und lässt ihn machen. Den Badschrank der Mutter zersägt er beim Versuch, ihn um die Rohre herumzuzimmern. „Er war keine Hilfe, aber er hat sie immer angeboten.“

Von seiner Diagnose, Lungenkrebs, erfährt sie von ihrer Mutter. Sie meldet sich öfter bei ihm, will ihn mit den Kindern zusammenbringen, seinen Stiefenkeln. Er hat Pläne, will mit ihnen im Garten spielen, in den Zoo gehen. Aber es geht ihm immer schlechter. Dann auch noch Corona, der Shutdown. Er wohnt im Erdgeschoss, sie schiebt ihm Essen auf den Balkon. Immer öfter muss er ins Krankenhaus. Irgendwann fragt sie ihn: „Günni, ich weiß, total schräg, aber hast du eigentlich eine Patientenverfügung?“ – „Nee. Müsste man mal machen.“ Sie besorgt eine, fragt, wen sie eintragen soll, den Bruder? „Nein, auf keinen Fall. Würdest du?“ – „Klar.“

Ein großer Redner wird er auch mit der Krankheit nicht. Wie es um ihn steht, erfährt sie von den Ärzten, die jeden Tag mit seinem Tod rechnen. Wieso weiß eigentlich sonst niemand, wie es ihm geht? Wo sind all die Freunde jetzt, aus dem Tischtennis-Verein, aus der Dänemark-Reisegruppe? „Na ja, Günni erzählt ja nix“, heißt es. Dann bohrt doch nach, denkt sie.

Günter Schulz geht es schlecht, er hat keinen Appetit, meist ist er schon nicht mehr ansprechbar. In einem lichten Moment begrüßt er sie: „Meine Sonne!“ So hat er sie noch nie genannt. Ein andermal sagt sie zu ihm, „Günni, dass ich mal hier an deinem Bett sitze, oder?“ – „Scheiße is’, wa?“, antwortet er. Eine fast liebevolle Beziehung, kurz vor Schluss.

Als das Krankenhaus anruft, ist sie im Urlaub. Bricht ab, fährt mit seinem Bruder zu ihm. Der Raum ist abgedunkelt, er hat alle Schmerzmittel bekommen. „Und dann lag er da wie ein Häufchen Elend, kaum noch Mensch“, erzählt sie, ihre Stimme bricht. Sie fühlt, dass er ihre Anwesenheit wahrnimmt, sagt zu ihm: „Es ist in Ordnung, wenn du gehst, quäl dich nicht mehr.“ Abends dann kommt der Anruf.

[Wir schreiben regelmäßig über nicht-prominente Berliner, die in jüngster Zeit verstorben sind. Wenn Sie vom Ableben eines Menschen erfahren, über den wir einen Nachruf schreiben sollten, melden Sie sich bitte bei uns: nachrufe@tagesspiegel.de. Wie die Nachrufe entstehen, erfahren Sie hier.]

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