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Günther Hasewinkel (1922 - 2013)

© Privat

Nachruf auf Günter Hasewinkel (Geb. 1922): „Jetzt ist er wieder im Krieg“

Als Junge träumte er von einem Leben als Retter und Held bei der Artillerie. Es kam der Krieg – und er kam zur Artillerie. Später lebte er von diesen Erinnerungen. Die Schuldfrage klammerte er aus. Nachruf auf einen Unbelehrbaren.

Wenn der Tag zu dämmern begann, klappte Günter Hasewinkel seinen Sekretär mit dem eingefassten Leder auf, rückte seine Schreibmaschine der Marke Brother zurecht und blickte durch das Fenster die Heerstraße hinunter. Sobald das Klappern der Schreibmaschine ertönte, wussten die beiden Söhne: Jetzt ist er wieder im Krieg.

Günter Hasewinkel hatte vor, seine Erinnerungen als Offizier der Wehrmacht eines Tages als Buch zu veröffentlichen. Die Schreibmaschine begleitete ihn durch den Urlaub und durch die Sonntage, seine Skripte füllten Kartons. Am Ende ließ er einige Exemplare binden, eine Vorabausgabe der endgültigen Version, zu der es nie kam. „Unus multorum“ nannte er sein Werk, „Einer von vielen“.

Dieser eine wurde wie so viele schon als kleiner Junge zum Militär erzogen. Seine Heimatstadt Sagan in Schlesien, heute Polen, war Standort der reitenden Artillerie-Abteilung „von Podbielski“. „Die reitende Artillerie, die hat der alte Fritz erschaffen, seit dieser Zeit nennt man sie die Krone aller Waffen.“ Das brachte ihm sein Vater bei, der im Ersten Weltkrieg als Unteroffizier mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet worden war. Unzufrieden mit seinem Beruf als Kaufmann, hielt er engen Kontakt zum Militär und nahm den Sohn oft mit zu Batterie-Abenden und Reitturnieren.

Günter Hasewinkel, Leutnant der Wehrmacht, 1942
Günter Hasewinkel, Leutnant der Wehrmacht, 1942

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„Die Offiziere der Reichswehr waren der Inbegriff von Integrität. Sie waren sauber, standen abseits von allem Parteienhader. Sie waren die Vertreter einer Welt, die bessere Vergangenheit war und eine unsere demütigende Gegenwart heilende Zukunft in sich barg. Offiziere waren ohne materielles Streben, sie waren asketisch und im Ansehen ganz oben. Sie waren das Vorbild unserer Generation“, tippte Günter Hasewinkel in seine Maschine.

Die „demütigende Gegenwart“ der Weimarer Republik beschreibt er so: „Rund um Deutschland herum versuchten sich alle angrenzenden Länder noch ein Stück von der Beute abzuschneiden. In Ober- Schlesien waren es die Polen, am Sudetenrand waren es die Tschechen.“ Deutschland, ein wehrloses Stück Beute. Der Junge, der sich vorbereitet auf ein Leben als Retter und Held: „Ich besaß Hunderte von Zinnsoldaten. Die Deutschen in Feldgrau, die Engländer in Khaki-Braun, die Franzosen in Blau. Es gab sie in allen Stellungen, stürmend und schießend, Essen empfangend oder verwundet zusammenbrechend, am Scherenfernrohr oder hinter einem MG, als Kanonier und als Fernsprecher.“ Mit den Zinnsoldaten stellten Günter und sein Freund die Schlachten nach, die die Zeitschrift „Kriegskunst in Wort und Bild“ abdruckte. Angesteckt von der Begeisterung der Väter, die ein Abonnement dieser Zeitschrift besaßen, übten sie Krieg.

„Hatten beide Seiten ihren Aufmarsch beendet, wurden auf Augenhöhe mit dem Sandkastenrand Skizzen über die erkannten Feindstellungen angefertigt. Zum Schluss wurde das Feuer auf die feindliche Stellung eröffnet.“

Lange vor seinem Abitur wusste er, dass er zur Offiziersschule wollte, um Artillerist zu werden, ein „edles Steinchen“ in jener „Krone aller Waffen“. Zur Vorbereitung nahm er Reitunterricht bei einem Gutsbesitzer, der seinen ländlichen Reiterverein in eine „SA Reiterstandarte“ verwandelt hatte. „Sonntags marschierten die Bauernburschen auf ihren Ackergäulen auf. Graf Stillfried sprengte im verhaltenen Galopp vor ihre Front, reckte seinen rechten Arm in die Höhe und rief mit schneidender Stimme: ,Heil meine SA!’ Die Antwort scholl ihm im Chor entgegen: ,Heil Herr Graf!’ Über so etwas konnten wir uns nur amüsieren.“

Wo immer er in seinen Schriften die Nazis erwähnt, distanziert er sich. Obwohl unter ihnen das, was er unter „heilender Zukunft“ verstand, begonnen zu haben schien: Die Nachrichten vermeldeten ausschließlich Siege. Sein Wunsch, Artillerist zu werden, war brennend wie je.

Am 1. August 1941 stand er in der von deutschen Truppen besetzten Stadt Metz auf dem „Platz des Führers“ und wartete auf die Straßenbahn, die ihn zu seiner Kaserne bringen sollte. Dass das „Aktive Artillerie-Regiment 28“ seine Bewerbung als Offiziersanwärter angenommen hatte, erfüllte ihn mit Stolz.

Auf Pferden sprangen sie über Hindernisse, warfen dabei die Mütze in die Luft und riefen: „Hurra, ich will ein stolzer Reiter werden!“ Detailliert listet er das Fachwissen auf, das er sich aneignete: „Wir lernten alles über Streuung und Witterungseinflüsse, wir wussten, wann mit Doppelzünder und wann mit und ohne Verzögerung zu schießen sei, wie Abpraller erzielt wurden und welche Ladung zu wählen war. Wir lernten Richtkreis, Scherenfernrohr und Rundblickfernrohr kennen, das Einrichten einer Batterie, die Vermessung von B-Stellung und Feuerstellung. Wir schossen mit Karabiner liegend und stehend, wir schossen mit Maschinengewehren, mit Maschinenpistole und auch mit Pistole 08.“

Und wofür das alles? In dem Moment, in dem sich beim Lesen die Sinnfrage zu stellen beginnt, zitiert er die Sprüche, die in seiner Kaserne kursierten: „Die Artillerie kennt weder Freund noch Feind, sie kennt nur lohnende Ziele“ oder „Treffen wir, ist’s gut, treffen wir nicht, so war die moralische Wirkung ungeheuer.“

Günter Hasewinkel mit seinen Eltern, 1949 nach seiner Heimkehr aus der Kriegsgefangenschaft.
Günter Hasewinkel mit seinen Eltern, 1949 nach seiner Heimkehr aus der Kriegsgefangenschaft.

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An Kasinoabenden kam es vor, dass die Offiziersanwärter für die „alten Hasen“ singen mussten. Wenn der Bierpegel stimmte, wünschten diese sich das Lied von den „Alten Kameraden“. „Die letzte Strophe lautete: Für die Flagge Schwarz- Weiß-Rot / Gehen wir Deutsche treu bis in den Tod / Trinket aus und schenket ein / Und lasst uns alte Kameraden sein. Dieser Text war bestimmt nicht linientreu. Aber wir sangen die Zeile von der Flagge Schwarz-Weiß-Rot betont laut, und die Augen der älteren Offiziere wurden feucht. Sie dachten wohl mit Wehmut an ihren obersten Kriegsherrn Wilhelm II.“

Von einer Konfrontation mit dem nationalsozialistischen Menschen- und Weltbild in der Offiziersschule der Wehrmacht ist nicht die Rede.

Im April 1942 wurde Günter Hasewinkel zur „Frontbewährung“ auf die Krim geschickt. Bei seiner Ankunft bewunderte er die Schönheit der Landschaft, „zu anderen Zeiten müsste es herrlich hier sein“. Doch es ist keine andere Zeit als die seine, endlich. Er ist dort angekommen, wo er sich so lange hingeträumt hatte: im Krieg.

Im Stil des internen Berichterstatters schildert er sämtliche Begegnungen mit Vorgesetzten, deren Befehle und die fachmännische Ausführung der Befehle, er schildert das Einrichten und Wechseln der Stellungen, die Olivenhaine, die sich in „feuerspeiende Berge“ verwandeln, das Dröhnen der Tiefflieger, das „Sirren und Zwitschern der MG-Garben“, tote Russen, von grünen Fliegen umschwirrt, die Schreie der Verletzten, lange Märsche bei glühender Hitze, die Rast zwischen den Gräberreihen des „Englischen Friedhofs“ aus dem Krim-Krieg hundert Jahre zuvor. „Wir näherten uns der Stadt Kertsch. Der schon stark eingedrückte Brückenkopf wurde von den Russen mit dem Mute der Verzweiflung verteidigt. Der Artillerieaufmarsch rund um den Kessel vollzog sich in aller Eile. Im konzentrischen Feuer aller schweren Waffen sollte der Gegner vernichtet werden.“

Günter Hasewinkel und seine Kameraden verließen die Krim als Sieger. „Die Festung Sewastopol war gefallen.“

Er wurde zum Unteroffizier befördert. Und registrierte geschmeichelt, dass der Schreibstuben-Unteroffizier, der nach der Bankverbindung für das neue Gehalt fragte, ihn jetzt mit Du ansprach.

Das alte Bild des „sauberen Offiziers“ hatte den ersten Einsatz unbeschadet überstanden – und sollte auch unbeschadet aus den folgenden hervorgehen. Die politische Führung aber kritisiert Günter Hasewinkel an dieser Stelle seiner Erzählung zum ersten Mal direkt: „Mit dem Regime, dem wir dienten, waren wir nicht zufrieden. Die Großsprecherei widerte uns an. Vor allem glaubten wir, dass der Krieg nicht optimal geführt wurde. Es waren Dilettanten am Werk, die alles mit ihrem Dazwischenfunken in Gefahr brachten.“

Was war es, das sie in Gefahr brachten? Das Land, die Welt? Den Erfolg der Wehrmacht? Die Redlichkeit des Offiziers? Er führt diesen Gedanken nicht weiter, sondern erzählt von einem Besuch Joseph Goebbels’ an der Offiziersschule in Jüterbog Ende 1942.

„Wir konnten uns einen Vers darauf machen, wie bedroht der bis Stalingrad vorspringende Frontbogen war. Die Angst vor einer Katastrophe saß uns schon tief in den Knochen. Aber er hielt einen sachlichen Vortrag über das Wesen der Propaganda und der Volksaufklärung. Er korrumpierte uns mit einer augenzwinkernden Erklärung, dass Propaganda für breite, ungebildete Massen natürlich primitiv sei. Er brachte es fertig, in uns ein Gefühl von Solidarität zu erzeugen. Als hätte er die innerliche Abwehr aus den Reihen der vor ihm sitzenden Zuhörer gespürt. Und er erhielt seinen Beifall.“

Je mehr Günter Hasewinkel sich von den „korrumpierenden Dilettanten“ unterschied, je „professioneller“ er wurde, desto „richtiger“ fühlte er sich. „Ein paar Tage nach unserer großen Übung wurde ein Großteil zu Fahnenjunkern und Wachtmeistern befördert. Zu meiner großen Befriedigung war ich dabei.“

Der Wunsch, als Militär einer Sphäre angehört zu haben, die für sich selbst stand und losgelöst von Zeit und Politik funktionierte, wird in der Schilderung eines Heimaturlaubes 1944 besonders deutlich: Als der NSDAP-Ortsgruppenleiter erfuhr, dass Günter Hasewinkel bei seinem Einsatz in der „Dritten Ladoga-Schlacht“ vor Leningrad für „kampfentscheidende Feuerleitung“ mit dem Eisernen Kreuz I. Klasse ausgezeichnet worden war, stattete er ihm einen Besuch ab. Günter Hasewinkel empörte sich darüber, dass der politische Karrierist in ihm einen Gleichgesinnten sehen wollte: „Irgendwie ging mir das gegen den Strich. Von der Hitler-Jugend war ich in die Partei übernommen worden, das war fast automatisch gelaufen. Während der Angehörigkeit zur Wehrmacht ruhte die Parteimitgliedschaft. Jetzt war ich eingebettet in das Offizierskorps – an alte Traditionen gebunden –, in dem Aufrichtigkeit und Verlässlichkeit galten, in dem es nichts von dieser Aufgeblasenheit der Heimatkrieger gab. Ich hatte mit dieser Partei nichts mehr gemein, und ich erklärte, dass ich aus der Partei austreten wollte.“

Diese Schilderung seines Austrittswunsches ist die einzige Stelle, in der er seine Mitgliedschaften und eine mögliche frühere Sympathie für die Nazis überhaupt erwähnt.

Unerwähnt bleibt, dass sein Einsatz in der Heeresgruppe Nord in direktem Zusammenhang mit der Blockade Leningrads stand. Fast eine Million Einwohner sind hier verhungert.

Die Flucht aus Russland, die er „Absetz-Befehl“ nennt, schildert Günter Hasewinkel ebenso detailreich wie die Angriffe. Immer ist es „der Russe“, der drohend hervorbricht, „dort zieht sich im gleißenden Sonnenlicht ein Aufblitzen an der ganzen Front entlang. Die Russen haben ihre Säbel gezogen und traben an“, und die Wehrmacht, die sich tapfer verteidigt: „Kein Schuss ohne mein Kommando. Aufschlagzünder 50 Meter vor die Front halten, sie müssen in unsere Abpraller hineinreiten.“ So geht es westwärts, von einer Szene zur nächsten: „Der Russe streut das ganze Ufer mit Granatwerfern und mit Sprenggranaten aus seinen Panzern ab.“

Die Gesamtsituation, die Ideologie hinter dem Krieg, die Opfer auf der anderen Seite lässt er in seinem Kriegsgemälde mit keinem Wort aufscheinen. Er war ausgezogen, ein Held zu werden, wie man es ihm beigebracht hatte. Ein Mann, der seinen Job machte, und zwar vorbildlich.

Dass es bei der Wehrmacht keine Vergehen gab, behauptet er nicht. Doch Platz in seinen sonst so umfangreichen Erzählungen findet nur eines, das geahndet wurde und somit als gesühnt gelten darf: „Eine Polin kam blutend auf den Gefechtsstand und berichtete, einer der Deutschen habe sie vergewaltigen wollen. Im Morgengrauen wurde der Mann standrechtlich erschossen.“

Das Ende fasst er so zusammen: „Eisern wurde Disziplin aufrechterhalten und dort, wo sie gelitten hatte, wieder aufgestellt.“ Es gelang ihm, sich mit seiner auf wenige Mann zusammengeschmolzenen Einheit bis zur Weichselmündung zu retten.

Es ist der 8. Mai 1945. „Der Oberstleutnant sitzt allein in einem großen, leeren Raum. Stumm schiebt er einen verschlossenen Brief über den Tisch: Dem Kommandeur persönlich, nicht vor 23 Uhr zu öffnen. Er will den Befehl wörtlich ausführen und wartet, bis die Zeiger der Uhr auf 23 Uhr stehen. Der erste Satz lautet: Der Kampf ist zu Ende.“

Günter Hasewinkel kam in russische Gefangenschaft. „Was ist aus uns geworden, die wir damals gesungen haben: ,Auf Kameraden, lustig Kameraden, und es klingt die Marschmusik.’ Jetzt zottele ich in einem stupiden Haufen einem Strohsack entgegen, davor steht noch die Kapusta-Suppe. Aber sie reicht nicht aus, das hungrige Bohren und Nagen im Magen zu beruhigen.“

Im Dezember 1949 kehrte er nach Deutschland zurück. Er machte, wie einst sein Vater, eine kaufmännische Ausbildung. Die Papierfabrik Gottwald & Co holte ihn als Prokuristen nach Berlin. Mehr als 20 Jahre arbeitete er hier, bis er am Schluss den Konkurs abzuwickeln hatte. Bei dem Bauunternehmer Garski roch er noch in der Probezeit den Skandal, der auf die Firma zurollte, und kündigte. Zuletzt arbeitete er in leitenden Funktionen bei einer großen Wohnungsbaugesellschaft.

Sein eigentliches Thema und sein heimlicher Beruf blieb die Wehrmacht. Seine Regale füllten Fachbücher zum Heereswesen, zur Artilleristik, zur Kriegsgeschichte. Er stand in Korrespondenz mit Experten und ehemaligen Kameraden. Seine Söhne und seine Frau erlebten ihn als einen melancholischen Menschen, der auflebte, wenn es um die Vergangenheit ging. Und wenn am Abend die Schreibmaschine klapperte, wussten sie: Jetzt kämpft er wieder.

„Dass er mit seinem Buch nicht fertig wurde, liegt daran, dass er mit seiner eigenen Geschichte nicht fertig wurde“, vermutet sein Sohn.

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