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Eugen Eichhorn

© privat

Nachruf auf Eugen Eichhorn: Sonntags gegen den Forschungsreaktor

Aus dem, was war, mussten doch Schlüsse gezogen werden. Demonstrationen etwa, Sitzblockaden, Friedensfahrten. Und zur Beruhigung: die Mathematik

Eugen schrieb, ständig und überall. Auf kleinen Notizzetteln hielt er Gedanken, Beobachtungen und Erinnerungen fest: mit wem er gesprochen hatte, wer ein Kind bekommen hatte, was er noch einkaufen musste. War der Tag zu Ende, bündelte er die Zettel und versah sie mit dem Datum in römischen Zahlen. Tagebuch führte er seit seiner Jugend. Dieser Eintrag hier, da war er 22 und studierte schon Mathematik in München: „Sehr erhabener Start: Frau Mama schickte mir ein Postsparbuch mit 300 Mark. Ich hatte nur um 30 gebeten. Ich gelobte, sparsam damit umzugehen. Doch seit dem gestrigen Mittagessen war ich wieder blank, bis auf 25 Rest.“ Briefe schrieb er natürlich auch, Hunderte von Briefen in die ganze Welt. Seiner ehemaligen Mathelehrerin legte er dar, was ihn bewegte und welche Entscheidungen für sein Leben er treffen wollte. Sie antwortete ebenso ausführlich. Eine Brieffreundschaft bis zu ihrem Tod.

Die Lehrerin und ein junger katholischer Jugenddekan waren prägend für Eugen. Sie boten Perspektiven auf die Geschichte, auf die Welt, auf Deutschland. Die brauchte er, denn in der hessischen Kreisstadt, in der er aufwuchs, herrschte das große Schweigen nach dem Krieg, und Eugen wollte reden, von Anfang an.

Sein Vater, Offizier in der Wehrmacht, an der Ostfront ums Leben gekommen – war er an Verbrechen beteiligt gewesen? Die Frage nach Schuld und Verantwortung in der Nazizeit ließ Eugen nie wieder los. Es mussten doch Schlüsse gezogen werden, für den Frieden, gegen den Krieg, gegen die Atomkraft … Demonstrationen, Blockaden, Sitzstreiks, Vorlesungen, Austauschprogramme, Friedensfahrten. „Jetzt“ war eins seiner Lieblingsworte.

Beruflich aber befasste er sich mit der Mathematik. Seine Tochter sagt: „Ich glaube, sie hat ihn beruhigt. In seinem Kopf war so viel los, so viele Gedanken und innere Zweifel, wenn er die Mathematik nicht gehabt hätte, er wäre wohl explodiert.“ Auf seinem Lebenslauf liest sich das so: „Nach dem Vordiplom wechselte ich nach München, wo ich meine Studien mit dem Schwerpunkt komplexe Analysis fortsetzte. In meiner Diplomarbeit untersuchte ich Einbettungen Riemannscher Flächen in den C³.“ Was er verstanden hatte, brachte er seinen Mitstudenten bei, die noch nicht so weit waren, das war selbstverständlich.

Und sonntags in die Kirche, aus der er längst ausgetreten war

Und nebenbei musste die Welt gerettet werden. Gegen den Vietnamkrieg, für die Befreiung Lateinamerikas, gegen die Militärdiktaturen in der Türkei und Brasilien. Gegen die Volkszählung und gegen die Verkrustung der katholischen Kirche. Eugen saß auf dem Podium beim „Studentischen Arbeitskreis kritischer Katholizismus“ in München und sprach in seinem hessischen Tonfall zu den Leuten. Seine Reden waren emotional, persönlich. Er glaubte ja an Gott, zog sich jeden Tag zurück und hielt seine stillen Minuten ab, seine Gespräche mit dem Jenseits. Er ging auch sonntags in die Kirche – aus der er längst ausgetreten war.

Eugen lernte Hilda kennen, eine Lichtgestalt unter den Studentinnen, wie er sagte. Abends saßen sie zusammen in einem der vielen Münchner Parks, spielten Gitarre und sangen Lieder von Brecht und Ringelnatz. Sie waren kritisch, gaben wenig auf hohen Lebensstandard und Konsum. Und sie wurden ein Paar, wenn man das so nennen kann, denn Eugen beharrte auf seiner Eigenständigkeit und verliebte sich schnell mal in eine andere, sah dann aber doch ein, dass das, was ihn mit Hilda verband, größer war.

1972 zogen sie nach Berlin, machten eine große Wohngemeinschaft auf, hochpolitisch selbstverständlich. Zwei Jugendlichen, die mit 16 aus dem Heim entlassen worden waren, boten sie Unterkunft und kümmerten sich um sie. Eugen und Hilda bekamen eine Tochter, aber Eugen sagte gleich, dass eine Kleinfamilie nicht das Richtige für ihn sei. Zu viel zu tun. „Wirklich gekümmert hat er sich nicht“, sagt seine Tochter. „Aber er hatte eine Art, mit mir zu sprechen, mich für voll zu nehmen, mir die Welt zu erklären, da habe ich mich gut gefühlt.“ Sonntags nahm er sie mit zu den Demonstrationen gegen den Berliner Forschungs-Atomreaktor. Ob sie zu fünft oder zu zehnt da waren – „wichtig ist, dass überhaupt jemand da ist!“

Eugen trennte sich von Hilda, und er begegnete Silvia. Ruhig war sie, und ruhig war es bei ihnen zu Hause. Ein Ort, an dem sich Eugen geborgen fühlte, an dem er nachmittags schlafen und nachts arbeiten konnte. Vielleicht war es mit Silvia wie mit der Mathematik, sie gab ihm inneren Frieden.

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1988 wurde Eugen Professor an der Beuth Hochschule für Technik, zuständig für Mathematik, Programmieren und Analysis. Seine Traumstelle. Wenn die Studenten mal streikten, solidarisierte er sich natürlich. Eines Tages stieß er auf die Biografie des Mathematikers Felix Hausdorff. Jeder Mathestudent kennt ihn, es gibt die Hausdorff-Metrik, das Hausdorff-Trennungsaxiom. Doch kaum einer weiß, dass er ein Jude in Deutschland war und sich kurz vor der Deportation zusammen mit seiner Frau das Leben nahm. Eugen las alles, was er fand über Hausdorff, er stellte Unterrichtsstoff zusammen und gab in jedem Semester eine Vorlesung über ihn.

Der Professor war unermüdlich, gründete das Deutsch-Japanische-Friedensforum, fuhr oft nach Hiroshima und Nagasaki, erreichte, dass Zivildienstleistende nach Japan gesandt wurden, gab Friedensvorlesungen, auch als er schon längst in Rente war. So viele Menschen, so viele Begegnungen.

Auf seiner letzten Reise nach Japan infizierte er sich mit dem Coronavirus. Künstliche Beatmung, Koma. Seine Tochter konnte ihn jeden Tag besuchen, las ihm vor, redete mit ihm, war an seiner Seite. Ende Mai ist Eugen Eichhorn gestorben.

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