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Dr. Cilly Weichan mit Elektronenmikroskop 1956

© privat

Nachruf auf Cilly Weichan: „Ein Mann fügt sich immer, wenn Sie mit einer gewissen Autorität auftreten“

Kinder, Küche, Kirche? Überholter Unfug! Nachruf auf Cilly Weichan, Jahrgang 1922, die sich nicht nach Traditionen richtete.

Sie ist schon auf dem Weg, will, weil sie sich an der Universität immatrikuliert und also dem Nationalsozialistischen Studentenbund beizutreten hat, ihre Beiträge einzahlen. Aber auf dem Weg dorthin liegt ein Hutgeschäft, und in der Schaufensterauslage des Hutgeschäftes thront dieses Exemplar. Sie betrachtet es, die Zeit verstreicht, sie zählt ihr Geld, sie betritt das Geschäft, probiert den Hut auf, sie dreht und wendet sich vor dem Spiegel, ja, bitte, packen Sie ihn ein, ich nehme ihn, sie tritt mit der Schachtel auf die Straße.

Und nein, selbst wenn sie sich beeilt, das Studentenbundbüro wird sie beim besten Willen nicht mehr geöffnet vorfinden. Ein zweites Mal macht sie sich nicht auf den Weg.

Warum sich dann fünf Jahre lang niemand mehr bei ihr meldet – die Hutszene hat sich 1940 abgespielt –, bleibt im Dunkeln. Schließlich aber, nach der Befreiung vom deutschen Irrsinn, erkennt sie, welches Glück der Hut ihr brachte: Sie gilt als unbelastet, kann sofort weiterstudieren und muss sich nicht einem langwierigen Entnazifizierungsprozess unterziehen

Ein Kind, mit 40, unerhört

Sie studiert Biologie, sie promoviert. Und trägt ihren Hut mit Freude. Welch ein Unsinn auch, anzunehmen, eine Naturwissenschaftlerin müsse fahle Faltenröcke und ausschließlich festes Schuhwerk tragen. Warum soll eine Frau sich überhaupt nach Traditionen richten? Cilly Weichan macht mit Geist auf sich aufmerksam. Kinder, Küche, Kirche? Das mag ja eine hübsche Alliteration sein, sagt sie, ansonsten aber ist es überholter Unfug.

Für Siemens baut sie Labore für Elektronenmikroskopie auf; sie entwickelt selbst ein solches, das inoffiziell „Cillyfried“ genannt wird, zusammengesetzt aus ihrem und dem Namen ihres Kollegen Siegfried Leisegang.

Sie ist ununterbrochen unterwegs auf der ganzen Welt, um Mikroskope aufzubauen und Wissenschaftler in deren Gebrauch zu unterrichten; sie trifft Lise Meitner; sie erläutert dem schwedischen König die Elektronenmikroskopie; sie ist mit einem Mann zusammen, ohne mit ihm zusammenzuleben; sie bekommt ein Kind mit 40, unehelich. Unerhört, das alles, in den 50er, 60er Jahren.

Nie und nimmer kümmert die sich richtig um ihr Kind!

„Ich habe mich darüber hinweggesetzt, was andere dachten“, erzählt Cilly Weichan später. „Ich war über Jahrzehnte die einzige Frau in den harten Entwicklungsgesprächen bei der Industrie, wo es um Millionen ging. Und es wurde dann immer gesagt, ich sei der einzige Mann, denn die Kollegen haben nie den Mund aufgemacht. Die dachten an ihr Fortkommen. Ich kann nicht sagen, dass ich als Frau besondere Schwierigkeiten gehabt hätte. Aber wenn Sie ein sogenannter bunter Vogel sind, dann müssen Sie eben mehr leisten als die anderen. Und das heißt, dass Sie wenig Rücksicht auf Ihr Privatleben nehmen, bereit sind, Tag und Nacht zu arbeiten, hart zu arbeiten wie die Männer, aber eben kein Mann sind. Die einzige Schwierigkeit, die ich aber immer rechtzeitig sah, das waren die weiblichen Mitarbeiter. Denn die sind schwieriger als die männlichen Mitarbeiter, ein Mann fügt sich immer, wenn Sie mit einer gewissen Autorität auftreten.“

Was nicht gegen die Frauen spricht. Unter denen gibt es aber auch nicht wenige, die eine wie sie verbittert betrachten und hinter vorgehaltener Hand den einen oder anderen boshaften Satz ausstoßen: Jetzt hat sie so spät ein Kind bekommen von einem Vater, der weit weg lebt. In München, stellen Sie sich vor! Nie und nimmer kümmert die sich richtig um ihr Kind!

Doch, sie kümmert sich. Vielleicht nicht auf die gluckenhafte Art, aber sie kümmert sich. Trotz der vielen Reisen, trotz der Arbeit. Wenn sie da ist, dann mit aller Aufmerksamkeit, mit aller Wärme. Zudem gibt es ein Kindermädchen, Ewa, und es gibt den Vater, der regelmäßig nach Berlin kommt oder seinen Sohn in München empfängt.

„Als er neun Monate alt war“, erzählt sie, „hatte ich zwei Tagungen hintereinander, eine in Lyon und eine in der Schweiz, und zwischendurch kam ich nach München. Ich hatte ein früheres Flugzeug gekriegt, und da saß er dann im Kinderwagen, volle Windel, mit Ei und Kakao verschmiert, und hat mich angestrahlt.“

Die Weltläufigkeit seiner Mutter, wie sie über Tellerränder schaute, ihre Kunstsinnigkeit – als er acht war, nahm sie ihn mit in den „Barbier von Sevilla“ –, all das prägt den Sohn fürs Leben.

„Wir hockten uns nicht auf der Pelle“, sagt er, „aber wir waren außerordentlich miteinander verbunden.“

Cilly Weichan behält ihren weiten Blick, pfeift auf Begrenzungen, auch nachdem sie bei Siemens ausgeschieden ist. Sie leitet eine Kultur- und Wissenschaftsgruppe, übernimmt Aufgaben im Akademikerinnen-Bund. Theater, Oper, Jazz, Reisen. So reich das Leben, bis zum Ende.

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