zum Hauptinhalt
Christian Herwartz

© Thilo Rückeis

Nachruf auf Christian Herwartz: Der tätowierte Missionar

Ein Jesuit ist überall Jesuit, warum nicht auch an der Drehmaschine? Und manchmal stand die Polizei vor seiner Tür

Als sich die 68er längst auf dem Weg durch die Institutionen befanden, stand Christian Herwartz hinter einer Werkbank und arbeitete im Akkord. In gewissem Sinne war auch er einer von ihnen, nur war sein Weg ein ziemlich anderer.

Sein Vater war U-Bootkapitän, später Offizier der Bundeswehr. Nach der Schule arbeitete Christian auf einer Werft in Kiel, absolvierte eine Offiziersausbildung bei der Bundeswehr und holte schließlich noch sein Abitur nach. Der Christenglaube war ihm vom Vater eingepflanzt worden, nun suchte er nach einer Gemeinschaft, in der er ihn leben und verbreiten konnte. Die Jesuiten entsprachen seinen Vorstellungen: Eine gebildete Gemeinschaft, die sich nicht hinter Klostermauern zurückzog, sondern mitreden wollte. Er trat dem Orden bei und studierte Theologie und Philosophie. Das war Ende der 60er, Anfang der 70er; die meisten Novizen verließen den Orden wieder. Zu revolutionär die Zeiten, um sie katholisch zu verbringen, da änderte auch das Zweite Vatikanische Konzil nicht viel, das die Kirche wie den Orden gründlich veränderte. Warum nicht das Revolutionäre mit dem Katholischen verbinden, dachte Christian Herwartz und wandte sich der „Theologie der Befreiung“ zu.

Er ging nach Frankreich, wo es die „Arbeiterpriester“ gab. Sie gingen in die Betriebe. Ein Jesuit ist überall Jesuit, warum nicht auch an der Drehmaschine? Der Orden war einverstanden; „Bruder Herwartz SJ“ leistete seinen Dienst unter Arbeitern in Toulouse. Er wurde Ausbilder an einer hochmodernen Maschine aus Deutschland – und Gewerkschafter, der mit den Kommunisten sympathisierte. Folglich wurde er gekündigt, ging noch nach Paris und schließlich zurück nach Deutschland, wo er 1976 zum Priester geweiht wurde.

Priester im Blaumann oder Kommunist unter der Soutane

Was keineswegs hieß, dass er Gemeindepfarrer wurde oder irgendeinen Job innerhalb der Kirche suchte. Er zog nach Berlin, um als Lagerarbeiter und Dreher zu arbeiten. Statt die komfortable Unterkunft der Jesuiten am Lietzensee, bezog er zunächst ein Wohnheim mit vielen ausländischen Arbeitern. Von seinem gewerkschaftlichen Engagement wussten viele, nur wenige wussten von seinem kirchlichen Amt. Linke Fundamentalisten misstrauten dem Priester im Blaumann. Manche Ordensbrüder hingegen sahen in ihm den Kommunisten unter der Soutane. Als es bei einer Protestaktion vorm Werkstor zur Sache ging, und Christian einen türkischen Kollegen gegen beleidigende Polizisten verteidigte, lautstark und heftig, gab es eine Anzeige. Die Geldstrafe bezahlte er nicht; es folgten zwei Wochen Gefängnis, und Christian, der sein Tun gern in größere Zusammenhänge stellte, fragte: „Warum sitzen so wenige Christen im Gefängnis, wo die Verfolgung für die ersten Christen doch eine Selbstverständlichkeit war?“

Ein Märtyrer war er bestimmt nicht, für ihn bot der Knast eher die Möglichkeit, eine fremde Welt kennen zu lernen. In den 80er Jahren suchte er die Nähe zu den Angehörigen der RAF-Gefangenen. Er kritisierte Haftbedingungen und Übergriffe auf vermeintliche Sympathisanten. Mit einem Jesuitenbruder, dessen Familie Morddrohungen der RAF bekam, lieferte er sich heftige Diskussionen.

Mit zwei anderen Jesuiten gründete er eine Wohngemeinschaft in der Naunynstraße, Kreuzberg, gleich überm „Trinkteufel“. Die Miete verdiente er mit seinem Fabrikjob. Im Orden funktioniert es grundsätzlich so, dass alle ihren Arbeitslohn in die Kasse geben, aus der jedem das Nötige bezahlt wird. Es gilt das Armutsgelübde. Jesuiten-WGs gab es viele, diese hier war einmalig. Es stand kein großer Plan dahinter, sondern die Auffassung, dass man, wenn jemand anklopft, Einlass gewährt. Hier wurde unten geklingelt, keine Gegensprechanlage, es surrte, oben öffnete sich die Wohnungstür. Nur herein! Tee oder Kaffee? Brauchst Du ein Bett? So glich die große Wohnung bald einem Wohnheim. Und Christian schlief mit sieben anderen in einem Zimmer.

Die Ankömmlinge durften erzählen, sie durften schweigen. Die meisten schwiegen erstmal, jedenfalls über sich. Ansonsten wurde viel geredet, laut gestritten, manchmal gesungen, geplant, verabredet. 70 Nationalitäten sind durch die WG gezogen, so hat Christian einmal überschlagen. Illegale, Halblegale, Abgedrehte, Suchende.

Die Polizei vor der Tür

Hin und wieder stand die Polizei vor der Tür und suchte nach Verdächtigen aus der Besetzerszene, später nach Leuten, die sich der Abschiebung entzogen. Man wusste ja, wie es hier zuging. Besucherinnen, Gäste schwärmen von der Offenheit und Freiheit, die in den abgewohnten Räumen herrschte. Es durfte nichts Wertvolles in der Wohnung sein, sonst hätte man ja aufpassen, kontrollieren müssen. Was geklaut wurde, war zu wertvoll oder einfach zu viel.

Christian verstand sich als Missionar, das ganz bestimmt, aber allergisch reagierte er, wenn man ihn für einen Sozialpastor hielt. Schon mit der Zuschreibung als Helfer erhebe man sich über den anderen. Er wollte Mitmensch sein, und durch das Zusammenleben und gemeinsame Aktionen zu Einsichten verhelfen. Er erfand die „Exerzitien auf der Straße“, entlieh Regieanweisungen aus der Bibel, ohne Schuhe, ohne Geld in die Stadt hinaus und abends besprechen, was geschehen war.

Als am jesuitischen Canisiuskolleg die Missbrauchsfälle aufgeklärt wurden, hätte er sich abwenden können. Er war ja in Kreuzberg gewesen. Aber die Täter aus dem Orden hat auch er gekannt. Jetzt stand er den Aufklärern zur Seite und befragte auch sich selbst: Was hätte ich tun können? Wie steht es um die Machtfrage in der Wohngemeinschaft? Wenn es um Gewalt ging, habe ich richtig reagiert?

Vor Jahren schon erhielt er die Diagnose Parkinson, eine schleichende Krankheit, mit den Einschränkungen konnte er lange Zeit relativ gut leben. Und er lernte, Hilflosigkeit zuzulassen, die schwerste geistliche Übung. Die WG übernahm eine Nachfolgerin, Christian zog sich in die Betreuung des Ordens zurück, zu denen, die ihn einst misstrauisch beobachteten und denen er oft mit gehöriger Arroganz begegnet war. Schwer fiel es ihm, plötzlich allein in einem Zimmer zu schlafen, diese Stille! Wäre er auf der Straße und ohne Papiere gestorben, man hätte ihn womöglich für einen Obdachlosen gehalten: langer weißer Bart, tätowiert am ganzen Körper. Über die Tattoos wäre man ihm vielleicht auf die Spur gekommen, lauter religiöse Motive. Offenbar ein frommer Mann.

[Wir schreiben regelmäßig über nicht-prominente Berliner, die in jüngster Zeit verstorben sind. Wenn Sie vom Ableben eines Menschen erfahren, über den wir einen Nachruf schreiben sollten, melden Sie sich bitte bei uns: nachrufe@tagesspiegel.de. Wie die Nachrufe entstehen, erfahren Sie hier.]

Jörg Machel

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false