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Christa Chen-Freyburg

© privat

Nachruf auf Christa Chen-Freyburg: „Wie es Jesus vielleicht gefallen hätte“

„Pastorin“ durfte sie werden, den Titel „Pfarrerin“ erlaubte das Kirchenrecht erst seit den 70ern.

Christa Chen-Freyburg war Pfarrerin. Also predigte sie jeden Sonntag vor ihrer Gemeinde. Im August 1985 sprach sie über einen Satz aus dem 1. Petrusbrief. Da heißt es, derjenige, der leben und gute Tage sehen wolle, „suche Frieden und jage ihm nach“. Christa deutete die Stelle folgendermaßen: „Ich sehe eine Oma, die einem Kind nachjagt, das im Begriff ist, auf die Straße zu rennen. Ich sehe einen Reisenden einem Zug nachjagen. So dem Frieden nachjagen als etwas, das in höchster Gefahr ist oder im Begriff, uns zu entgleiten? Der Friede, von dem die Bibel spricht, verlangt offenbar Bewegung von uns, wir müssen uns anstrengen, ihn einzuholen.“

Frieden ist keine hübsche Blume, die geduldig am Weg steht und darauf wartet, gepflückt zu werden. Christa erkannte das früh. Überall Unbehagen, Unruhe, Bedrohung, Auslöschung, in der Welt, in ihrer Stadt, in ihrer Straße.

Sie war sechs, als die Nationalsozialisten die Macht übernahmen. Freunde ihrer Eltern, die Bendas, saßen immer öfter allein zu Hause, denn Herr Bendas Stammbaum entsprach nicht den Vorstellungen von arischer Reinheit. Christas Eltern besuchten die Familie aber mit größter Selbstverständlichkeit weiter. Als der Krieg kurz bevor stand, sollten Skier für das Militär gespendet werden. Christas Vater gab auch die von Herrn Benda ab. Der Mann von der Sammelstelle blaffte: „Sind das die Skier vom Juden Benda?“ Und Christas Vater antwortete: „Wenn seine Söhne gut genug sind, für Deutschland zu kämpfen, werden seine Skier ja wohl auch gut genug sein.“

Dann gab es noch Frau Kahn und Frau Sacki, die Christa und ihrem jüngeren Bruder Günter erstaunliche Geschenke brachten, einmal einen Laubfrosch, einmal einen Kanarienvogel. Eines Tages waren Frau Kahn und Frau Sacki weg. Abgeholt.

Christas Vater ging zu den Gottesdiensten der „Bekennenden Kirche“, deren Mitglieder sich gegen die Nazi-Gleichschaltung wehrten. Er hörte in der Dahlemer Dorfkirche Martin Niemöller. Nachdem die Gestapo Niemöller ins Konzentrationslager Sachsenhausen gebracht hatte, wurde Christa von ihren Eltern losgeschickt, um bei ausgewählten Leuten Spenden für Niemöllers Frau und seine Kinder zu sammeln.

Um der staatlichen Gehirnwäsche zu entgehen, sollte Christa auf ein Privatgymnasium. Die Schule aber wurde geschlossen, zu menschenfreundlich ihr Geist. Sie musste doch den braunen Bildungsstumpfsinn über sich ergehen lassen.

"Es gibt doch bald Krieg"

1938 wollte ihr Vater, ein ernster Mann, mit ihrer Mutter, einer 1,80 Meter großen, überaus eleganten, warmen Frau, verreisen. Auf die Kinder sollte währenddessen ein altes Fräulein Obacht geben. Aber die Mutter begann zu weinen: „Lass uns bleiben. Es gibt doch bald Krieg.“ Worauf der Vater antwortete: „Nein. Erst nächstes Jahr.“ Christa erzählte noch in hohem Alter davon.

Dann kamen die Bomben. Sie floh mit der Mutter und dem Bruder nach Thüringen. Sie verliebte sich in einen Jungen, der im Krieg starb. Sie ging weiter zur Schule, wo ihr, ohne dass sie eine einzige Klausur geschrieben hätte, ein Papier, auf dem „Reifeprüfung“ stand, in die Hand gedrückt wurde.

1946 kehrte sie zurück nach Berlin. Wiederholte das Abitur und beschloss, Mathelehrerin zu werden. Zog ihr schönstes Kostüm an und stellte sich den Fragen der Aufnahmekommission an der unter sowjetischem Einfluss stehenden „Berliner Universität“, die ab 1949 „Humboldt-Universität“ heißen sollte. Sie wurde abgelehnt. Vielleicht, vermutete sie, waren ihre Antworten „nicht sozialistisch genug“. Sie entschied sich, Theologie an der Kirchlichen Hochschule zu studieren. Hier kam beides zusammen: der „Logos“ und der direkte Kontakt mit Menschen.

Sie setzte das Studium in Tübingen und Zürich fort, absolvierte ihr Vikariat, ging für vier Jahre nach Glasgow und Edinburgh und übernahm danach die Pfarrstelle an der Evangelischen Studentengemeinde an der Technischen Universität in West-Berlin. Und jetzt? Die Gemeinde in Charlottenburg-Nord brauchte einen Pfarrer. Christa war geeignet. Wenn man von dem einem, für die Kirchenverwaltungsbeamten fundamentalen Problem absah: ihrem Geschlecht.

Sie hatte einflussreiche Fürsprecher im Gemeindekirchenrat und durfte dann immerhin „Pastorin“ werden, den Titel „Pfarrerin“ erlaubte das Kirchenrecht erst seit den 70ern.

Im Grunde hätte Christa auch ewig ungebunden bleiben können, das verspielte Hin und Her mit den Männern kam ihr kaum in den Sinn, fast wirkte sie unschuldig. „Sie lebte so“, sagt eine Nichte, „wie es Jesus vielleicht gefallen hätte“, ein uneitler, fleißiger Mensch, der sich um die seelische Verfassung der Gemeindemitglieder sorgte, einen Straftäter im Gefängnis besuchte, sich Eheprobleme anhörte, Trauernde tröstete.

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1967 aber, inzwischen 40 Jahre alt, heiratete sie doch. Herr Chen war Chinese, Doktor der Rechtswissenschaften und 22 Jahre älter als Christa. Bot jemand Herrn Chen während eines Nachmittagskaffees einen Keks an, lehnte er diesen sieben Mal hintereinander ab, bevor er ihn beim achten Mal sehr höflich und vielfach dankend entgegen nahm. Er trug nur feinste Anzüge, unterrichtete an Universitäten in der Schweiz und in Köln und schrieb Christa von dort die sanftesten Liebesbriefe.

1984 starb Herr Chen. 1989 ging Christa in Rente. Die Leute aber riefen sie weiterhin an, für Taufen, für Beerdigungen. Sie spendete großzügig, sie liebte es, in Restaurants zu essen, sie traf sich unentwegt mit Freunden. Sie nahm die Dinge leicht. Doch im letzten Jahr wurde das Leben allein zu beschwerlich. Das Gedächtnis verblasste. Am Ende schaffte sie es nicht mehr, selbstständig aufzustehen. Stundenlang harrte sie einmal unbeweglich aus, und als ihre Nichte sie dann endlich fand und über den Anblick ein bisschen weinen musste, sagte Christa: „Ach Putzelchen, das ist doch nicht so schlimm.“

Ihre letzten drei Wochen verbrachte sie in einem Heim. Auf dem Weg dorthin fragte sie: „Wo fahren wir hin?“ – „Ins Altersheim, das haben wir doch besprochen.“ Sie überlegte einen Moment und erwiderte dann heiter: „Ich weiß nicht, ob das ein gutes Ende nimmt.“ Auch die Fahrer des Krankentransports vorn mussten laut lachen.

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