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Andreas Hempler

© David Ensikat

Nachruf auf Andreas Hempler: Blutjung und nicht in der Partei

Eine verkorkste Hausarbeit, eine hinderliche Beurteilung. Ein Schüler, ein Lehrer und ein paar zwiespältige Geschichten.

Von David Ensikat

Der Schüler, der sein Abitur vor 35 Jahren abgelegt hat, sitzt auf einer Bank in der Turnhalle und sieht die Bilder auf der kleinen Leinwand. Da sind welche von schottischen Landschaften, durch die Schüler ihrem Lehrer hinterherstapfen. Dazu Musik vom Band, Lieblingsmusik des Lehrers.

Er ist tot, der Lehrer, ein Jahr vor der Rente gestorben, so plötzlich, dass es niemand fassen kann. Sieben Tage später die Trauerveranstaltung in der Turnhalle. Sie ist voll, die Schüler schweigen, die jungen wie die alten. Sieben aus seiner ersten Abiturklasse sind da, die leitete er von 1985 bis 1987. Sie sind hergekommen, denn er war ganz anders als die anderen Lehrer damals. Nicht nur weil er jung war, 26, gut aussah und gut sitzende Jeans trug, sondern weil er so etwas wie die weite Welt in die Enge der „Erweiterten Oberschule Klement Gottwald“ brachte. Allein schon, da er sich bemühte, die englischen Wörter britisch auszusprechen. Wie konnte er das nur können? Er war DDR-Bürger und selbstverständlich nie bei den Briten gewesen; höchstwahrscheinlich hatte er noch nie Kontakt zu Englisch-Muttersprachlern gehabt. Er hat die Schüler mit ins Theater genommen, drei Stunden Wallenstein, gähnend langweilig, aber im Deutschunterricht haben sie, oder sagen wir, die Willigen, von ihm erfahren, warum der Schillerschinken aktuell ist: Unter politischen Bedingungen verselbstständigt sich das Handeln, die Moral bleibt auf der Strecke.

Der Schüler sitzt auf der Turnbank, sieht die Bilder, hört die Musik und erinnert sich an eine vollkommen verkorkste Hausarbeit, die er vor 36 Jahren geschrieben hat, „Wiedergabe von Eindrücken“. Der Lehrer hatte alles, wirklich alles getan, um Eindrücke zu erzeugen, er hatte Dias gezeigt von schottischen Landschaften, der Gegend, in die er sich selbst fortträumte, und hatte dazu seine liebste Musik gespielt, Mike Oldfield, „Tubular Bells“. Eine Kassettenaufnahme, an die er kaum auf legalem Weg gekommen sein konnte. Lauter Westkram in der Ostschule. Der Jeans-Lehrer stellte seine Sehnsucht aus und hoffte, eine ebensolche erzeugen zu können. Er meinte es wirklich gut.

Heucheln oder beleidigen

Natürlich konnte das nicht funktionieren. Mit der Musik konnten die zehn Jahre Jüngeren nichts anfangen, die Dias waren blass und klein. Entweder man heuchelte – das hatte man ja gut gelernt –, oder man beschrieb den lauen Eindruck und beleidigte den Lehrer. Der Schüler erahnte den „Erwartungshorizont“. Das wollte er beweisen mitsamt der pubertären Botschaft, dass er, der Schüler, die Versuchsanordnung für abgeschmackt halte und weitaus eindrucksvollere Musik kenne. Die hingeschluderte Hausarbeit besitzt er noch, er plädiert auf Hochmut eines 17-Jährigen. Der letzte Satz: „Der Eindruck der Bilder hätte allerdings durch eine bessere Projektion der Dias und durch andere Musik – etwa die Sonate in cis-moll op. 27 Nr. 2 von Ludwig van Beethoven – verstärkt werden können.“

In hervorragend lesbarer Schrift und kaum verblichenem Rot steht das Urteil des Lehrers darunter: „Ich weiß zwar nicht, was das Ganze soll – eine Erfüllung der Aufgabe ist es an keiner Stelle. Selbst Langeweile und Beziehungslosigkeit kann man mit Ihrem sprachlichen Vermögen wohl anders in Worte fassen. Aber machense ruhig weiter so.

Rechtschreibung: 1

Inhalt / Ausdruck: 4

He“ – für Hempler.

Der unverschämte Schüler, der beleidigte Lehrer – zwei, die einander mochten, das gestanden sie sich später bei einem Klassentreffen.

Es ist fünf Jahre her, der Lehrer war eingeladen, der Schüler war erstaunt: Alle waren so gealtert; zwischen noch-nicht-20 und fast-50 lag ein Riesensprung. Der Lehrer aber, Herr Hempler, kam herein im selben Federschritt wie damals, leicht O-beinig, Jeans, Bürstenhaarschnitt, grau inzwischen, im Grunde jedoch der blendende Kerl von damals. Als er dem Schüler das Du anbot, erschien das einerseits gerechtfertigt, denn er wirkte kein bisschen älter als die anderen am Tisch. Andererseits war klar, dass er, auch wenn man ihn nun Andreas nennen würde, immer „Herr Hempler“ bliebe.

Der Schüler erzählte die Tubular-Bells-Geschichte, Herr Hempler lachte und wunderte sich, wie er damals so unlocker reagieren konnte. Da nahm der Schüler allen Mut zusammen: „Es gab ja noch die andere Sache, die mit dem Studium. So richtig locker waren Sie, nein, du da auch nicht.“

Ganz genau erinnern konnte sich Herr Hempler nicht mehr, der Schüler aber umso mehr, was schon daran gelegen haben mag, dass Dinge, die der Mensch mit kurz vor 20 erlebt, sich weitaus tiefer einbrennen als jene, die ihm zehn Jahre später zustoßen.

Noch keine sozialistische Persönlichkeit

Es war das Jahr 1986. Nach dem Ende der elften Klasse bewarben sich die Abiturienten der Erweiterten Oberschulen an den Universitäten. Der Schüler wusste nicht, was er mal werden sollte, er wusste nur, dass er den Wehrdienst so schnell wie möglich hinter sich bringen wollte. Mit Zulassung zu irgendeinem Studium wurde man sofort nach dem Abitur eingezogen, ohne Zulassung erst mit Mitte 20. Er ging auf Nummer sicher, wählte „Gerätetechnik“, da suchten sie Studenten, ihm würde, bis es so weit wäre, schon etwas Besseres einfallen.

Die Universität erteilte eine Absage, sandte die Bewerbung weiter an eine andere, nach Jena, und diese lud den Schüler zum Gespräch. Er erfuhr, dass sie ihn gern nehmen würden, doch sei das unmöglich mit der beiliegenden Beurteilung des Klassenleiters. Sie lasen den entscheidenden Satz vor, der darauf verwies, dass es mit der Entwicklung des Schülers zur „sozialistischen Persönlichkeit“ noch nicht weit her sei, und dass dies unter anderem in seiner Nichtbereitschaft deutlich würde, einen längeren Wehrdienst zu leisten als den vorgeschriebenen. Tatsächlich war der Schüler unter den Jungs in seiner Klasse der Einzige, dem die 18 Monate vollauf genügten.

Die Eltern des Schülers beschwerten sich beim Direktor, der Direktor bestellte den Klassenleiter ein, gab ihm eins auf die Mütze, denn Plan war, dass 100 Prozent der Schüler der „EOS Klement Gottwald“ einen Studienplatz erhielten. Daraufhin verfasste der Lehrer eine neue Beurteilung, die besagte, dass im Laufe der letzten Monate die „Persönlichkeitsentwicklung“ des Schülers einen solchen Sprung vollzogen habe, dass eine Zulassung zum Studium unbedingt angeraten sei. Der Schüler erhielt die Zusage und wurde, planmäßig, nach dem Abitur zum „Ehrendienst in der Nationalen Volksarmee“ einberufen.

Noch so ein Minuspunkt

„Wie kam das“, fragte nun der alte Schüler seinen alten Lehrer, „dass Sie, nein du, so einen Mist in die Beurteilung geschrieben hast?“ Es war kein Vorwurf, die Sache ist ja glimpflich ausgegangen. Der Schüler sah das mehr als gut erzählbare Geschichte aus dem Osten, zu der ihm noch ein Stückchen fehlte. Der Lehrer überlegte lange, erinnerte sich nicht an die Formulierung, aber an die Situation dann doch. Der Platz an der Abitur-Schule war ein Hauptgewinn für ihn, der blutjung und nicht in der Partei war. Und der, noch so ein Minuspunkt, selbst ebenfalls keinen längeren Wehrdienst geleistet hatte. Er wusste, dass der Direktor nicht nur den Schüler argwöhnisch beobachtete, sondern auch ihn, den Jeans-Lehrer. Und er hatte noch nie solche Beurteilungen für die Universitäten geschrieben. Er hatte keine Ahnung, was von ihm erwartet wurde, wie viel Härte, wie viel Schmeichelei. Warum gerade er sich zu der Armee-Formulierung verstiegen hatte, konnte er nicht sagen, war es eine vorgestanzte Floskel, die Empfehlung eines Kollegen? Sie war ihm peinlich, obgleich der Schüler beteuerte, dass für ihn die Sache weitaus mehr über das korrumpierende System erzählte als über die Verfehlung eines jungen Lehrers.

Und schließlich kamen sie auf die historische Pointe, auf die es lohnte anzustoßen: Wäre der Lehrer doch bloß bei seiner ersten, bösen Beurteilung geblieben! Hätte er doch bloß, sozialistisch standhaft, dem Direktor zu verstehen gegeben, dass es sich bei diesem Schüler um ein noch zu schleifendes Subjekt handele, welches für ein Studium noch nicht reif sei. Der Schüler hätte den Platz an der Uni nicht bekommen, die Einziehung zur Armee wäre folglich aufgeschoben worden. Was, da der Mauerfall nur zwei Jahre bevorstand, womöglich bedeutet hätte, dass er, der Schüler, ganz um die elende Schleiferei herumgekommen wäre. Er wäre dem Klassenleiter zu größtem Dank verpflichtet.

Ein Fall skandalöser Selbstermächtigung

Dann deutete der Lehrer eine weitere Geschichte an, die sich zwei Jahre später zugetragen hatte, und die ihn tatsächlich den Job hätte kosten können. Es ging um politisches Missverhalten und Schulverweise in jener Klasse, die er nach der des Schülers übernommen hatte. Er führte die Sache an dem Abend nicht weiter aus; der Schüler erfuhr viel später, was da vorgefallen war.

Es war das Frühjahr 1988, in der Sowjetunion krempelte Gorbatschow das System um, die DDR verharrte betonhart auf der Stelle, da erstellten drei seiner Schüler eine Wandzeitung. Normalerweise eine lästige Pflichtübung, hier aber ein Fall skandalöser Selbstermächtigung. Es ging um die Vorbildrolle des „großen Bruders“, „Von der Sowjetunion lernen heißt siegen lernen“, derlei Floskeln, die auf einmal revolutionär waren. Die Stasi ermittelte, die drei sollten von der Schule fliegen.

Zwei andere Schüler der Klasse, die Herr Hempler ein halbes Jahr zuvor übernommen hatte, wandten sich an ihn: Man müsse etwas gegen den Verweis tun! Allein, dass sie sich ihm anvertrauten, hieß: Sie vertrauten diesem Lehrer. Es gab keinen anderen auf der Schule, bei dem das möglich schien. Er lud sie zum Gespräch, dessen Ergebnis ein Brief an die Schulverwaltung des Bezirks war mit der Bitte um Rücknahme der Relegierung. Das war mutig damals, so viel mutiger als die allermeisten Stellungnahmen in unserer bequemen Freiheit heute!

Die Sache nahm einen DDR-typischen Verlauf. Der Brief spielte dabei höchstwahrscheinlich gar keine Rolle. Die beiden Jungs und das Mädchen, die die Wandzeitung hergestellt hatten, durften an der Schule bleiben. Die Jungs, weil sie in bewährt-stalinistischer Tradition widerriefen, sich also öffentlich von ihrem „Machwerk“ distanzierten. Das Mädchen war tapfer und entschuldigte sich nicht. Es war allerdings die Enkelin eines längst verstorbenen Kulturministers, und die Eltern konnten offensichtlich fortdauernde Kontakte nutzen. Und die Klasse, nein, eher noch die ganze Schule, denn die Sache sprach sich rum, erhielt eine prägende Lektion in Stalinismus, jenem Fach, das nicht zum Lehrplan gehörte, welches jedoch das Land prägte bis in seinen Untergang.

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Herr Hempler war Anfang 30, als der Untergang erfolgte und es galt, sich auf ein neues Leben einzustellen. Mit seinem Beruf hatte er Glück, er musste sich nichts Neues suchen. Die Schule zog um, drei S-Bahnstationen weiter. Die neuen Lehrpläne ließen ungeahnte Freiräume. Der Lehrer zeigte seinen Klassen keine blassen Dias mehr von Schottland; er fuhr mit ihnen hin. Und er besuchte noch mal die Universität. Die Ausbildung der Ostlehrer galt als minderwertig; so wie damals an der Erweiterten Oberschule bangte der Lehrer nun um seinen Job am Gymnasium. Deshalb also studierte er noch einmal. Das war anstrengend, denn er arbeitete ja weiter, aber interessant war es allemal. So erzählte er es dem Schüler auf dem Klassentreffen; sie hätten einander begegnen können an der Humboldt-Uni. Dass das Zusatzstudium für seinen Job notwendig war, bezweifelte der Lehrer. Denn im neuen deutschen Land, so beschrieb er es, kommen viel mehr Schüler aufs Gymnasium, also auch die weniger Begabten, als damals auf die EOS. So könne er nur noch einen Bruchteil dessen vermitteln, was im Osten möglich war. Doch seinen Beruf liebte er noch immer. Wie wichtig er war, wurde ihm nicht zuletzt bei der Begegnung mit alten, dankbaren Schülern deutlich. Wenn sie sich an zwiespältige Geschichten erinnerten, hieß das erst recht: Sie haben was bei ihm gelernt. Und mit ihm.

Der alte Schüler hockt in der Turnhalle auf der Bank, blickt auf die Bilder seines alten Lehrers, der überhaupt nicht alt geworden ist, er hört die Reden, er weiß, dass jeder, der was über Herrn Hempler sagen kann, es bitte tun soll, jetzt, dafür ist die Veranstaltung ja da. Er überlegt, ob er seine zwiespältigen Geschichten erzählen soll. Er denkt, nein, man müsste viel zu viel erklären, wenn man sagen will, dass dieser Lehrer, der damals, jung und ahnungslos, Mist gebaut hat, so wie das jeder tut, erst recht in einem verkommenen System, dass das ein großartiger Lehrer war. Der Schüler denkt: Ich werde einen Nachruf schreiben.

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