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Nachruf auf Achim Goeres (Geb. 1956): Es geht ums Zuhören

Er übernahm sich, er ließ sich helfen, und er wurde selbst zum Helfer.

Wie gelange ich vom sehr Kleinen ins sehr Große? Indem ich zu den Sternen blicke. In seinem Heimatdorf gab es für Achim gar keinen anderen Fluchtweg als den ins Universum. Das hessische Kleinensee war an drei Seiten von der Zonengrenze umsäumt, an der vierten erhob sich ein Berg. Da blieb nur der Blick in den Himmel und der Gang in die Kirche, wo Achim von klein auf Orgel spielte. Den meisten Menschen bleibt ein Zuviel an Talent erspart. Bei Achim war es anders. Er konnte singen, bevor er sprach. Er konnte lesen, bevor er in die Schule ging, wo er mehrere Klassen übersprang. Er lernte Geige, spielte Klavier, und das auf so anrührende Weise, dass seine Großmutter ihn immer wieder bat, dem Großvater, „dem alten Kommissbrocken“, doch etwas vorzuspielen, um ihn ein wenig weicher zu stimmen. Dem Großvater wiederum waren diese Gefühle so ungewohnt, dass er dem Enkel Geld anbot für sein Spiel – ein anderes Dankeschön kannte er nicht. Aber Achim drehte die Hand nicht um, ließ sie auf den Tasten, er wollte sich nicht verkaufen.

Seine Liebe galt vorbehaltlos allen, die sie in Anspruch nahmen, was ihn verletzlich machte, aber auch sehr aufmerksam für jeden, der Hilfe brauchte, vorweg das flügellahme Vögelchen auf dem Schulweg.

Alles Lebendige ist verbunden, aber jenseits der Grenze unserer Welt, unseres Universums, was ist da? Die Seinsfrage führte ihn geradewegs zur Chaostheorie, zu jenen Denkern also, die klären wollen, wie aus Unordnung Ordnung entsteht, aus Materie Lebendiges. Achim ging nach Berlin und studierte Astrophysik. Wir alle sind aus Sternenstaub. Denn all die Elemente, die in unserem Körper zu finden sind, stammen von explodierenden Sternen, die uns zugleich dieses seltsame kosmische Heimweh eingepflanzt haben. Jeder, der die Woodstock-Hymne sang, weiß darum: „We are stardust / We are golden / And we’ve got to get ourselves / Back to the garden.“

Es war zu viel

Doch auch wenn kein einziges Atom im Weltall jemals verloren geht, so verlieren wir uns selbst zuweilen aus den Augen.

Achim übernahm sich. Er studierte Astrophysik und Tonmeisterei, sang als Tenor im „Ars Nova Ensemble“, arbeite als Organist, gründete eine Familie, zog vier Kinder groß, davon zwei eigene, und geriet in seelische Not. Es war zu viel. Zu drückend die eigenen Erwartungen wie die der anderen. Die Ehe scheiterte nach zehn Jahren. Er suchte sich therapeutischen Beistand und fand aus der Therapie heraus, indem er sich selbst zum Coach und Moderator ausbilden ließ.

„Wer du bist, entdeckst du nur, wenn du aus dir herausgehst.“ Er hatte begriffen, dass Lernen nur dann der Bildung dient, wenn sie den inneren Zwiespalt überwinden hilft. Ich gegen den Rest der Welt – das ist keine gesunde Standortbestimmung. Die beste Therapie ist folglich diejenige, die uns mit der Welt und uns selbst versöhnt. Denn letztlich geht es um Zuhören, Bezeugen, Anerkennen, nicht die Not anderer bezweifeln oder gar aus der Welt reden wollen.

Achim unterrichtete auch als Lehrbeauftragter an der Universität, und allen gemeinsam versuchte er das Gefühl zu vermitteln, dass jeder zugleich Lehrender und Lernender ist. „Ich habe das Lehren gelernt, indem ich beobachtet habe, wie ich lerne.“ Selbstfindung durch Herausforderung – das ist ein wunderbares Spiel, wenn es ohne Rechthaberei und Eigendünkel gespielt wird. Wie in der Musik, wenn sich ganz unterschiedliche Charaktere zu einem Konzert zusammenfinden. Wie in der Liebe, wenn sich zwei als etwas Neues begreifen. Als er Tanja kennen lernte, war er sich selbst schon sehr nahe gekommen. Jeden Morgen meditierte er eine Stunde. Er übte sich in afrikanischem Ausdruckstanz. Aber das Ich gänzlich in den Körper zu holen, sodass er für einen anderen begehrenswert wird, das gelingt nur in der Liebe. Mit Tanja gründete er das „Hanuman-Institut für Coaching und Supervision“, mit ihr ging er wandern in den Schweizer Bergen, mit ihr fand er das körperliche Vertrauen, das Beziehung nicht nur als Prozess der Buchhaltung begreift: Gib du mir, dann gebe ich dir. Im Zusammensein mit ihr begriff er: „Geben ist nicht das Problem, tief empfangen fordert uns heraus.“ Dazu muss ich den anderen sehen wollen und sehen können. Der Weg über den Kopf ist auch in der Liebe kein Umweg. Und ausgerechnet, als alles so licht um ihn herum war, wuchs in seinem Hirn dieser Tumor, ein Glioblastom.

Im Sommer 2016 erfuhr er, dass er nur noch kurze Zeit zu leben hatte, 18 Monate lautete die Prognose, 28 wurden es. Eine Zeit lang konnte er nachts nicht mehr schlafen, weil er jede Stunde des Lebens auskosten wollte. Er spielte die Orgel, spielte Klavier, wollte seine Ausbildungsgruppe unbedingt bis zum Abschluss unterrichten. Und es gelang ihm, obwohl seine praktische Vernunft zunehmend unter der Krankheit litt. Er wollte noch einmal hoch hinaus, auf den Diavolezza, ein letztes Mal die 3200 Meter bergan, nein, nicht im Rollstuhl, er wollte hochwandern, „Laufen wir hoch“, bat er Tanja, nach 300 Metern aber gestand er ein: „Jetzt ist es gut. Jetzt habe ich gemerkt, wie weit ich tatsächlich noch laufen kann.“

In seinem Innenleben schien alles noch möglich, aber der Körper versagte sich ihm. Die letzten vier Monate verbrachte er im Hospiz. Was taugt das Gelernte im Angesicht des Todes? Ob er denn an ein Weiterleben glauben würde, fragten ihn die Schwestern. „Aber sicher mische ich noch mit!“ Er strahlte das Gefühl aus, getragen und nicht verloren zu sein. Insofern brauchte er keinen Trost, sondern die Anwesenheit derer, die er liebte. Vor allem derer, die gut kochen konnten und die mit ihm Musik hörten, denn er genoss das Leben bis zuletzt. Auch in der Liebe selbst, als er und Tanja ein letztes Mal miteinander schliefen.

Alles Schöne noch einmal wahrnehmen, das seltene Glück, wenn man hier ist, zu ahnen, wie es dort sein könnte. Die Schwestern hatten schon gerätselt, an welchem der Feiertage er gehen würde. Er wählte Heiligabend, den Tag vor der Geburt Christi: auf die Verwandlung hoffen und andere an die Verwandlung glauben lassen.

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