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Nach vier Jahrzehnten Krankenpflege: „Wer das Chaos nicht liebt, ist im Krankenhaus fehl am Platz“

Sie hat ihr gesamtes Erwerbsleben in der Berliner Notfallmedizin verbracht. Zum Abschied spricht Birgit Liehr über ihre Arbeit als Pflegekraft.


Nach 42 Jahren in der Krankenpflege, zuletzt in der Notaufnahme des Benjamin-Franklin-Krankenhauses, ist Birgit Liehr vor kurzem in den Ruhestand verabschiedet worden. Der Checkpoint hat mit ihr ausführlich über ihren Beruf (nicht nur) in Corona-Zeiten gesprochen. 

Sie waren jahrelang Leiterin der Rettungsstelle im Berliner Wenckebach-Klinikum, dann jahrelang im Benjamin-Franklin-Krankenhaus tätig – wie kann man sich Ihre Arbeit als pflegerische Leiterin der Zentralen Notaufnahme vorstellen?
Ich bin zwar die Leitung und habe übergeordnete Aufgaben, aber von meinem Herzblut her bin ich vor allem Pflegekraft in der Notfallmedizin – und das seit 35 Jahren. Im Wenckebach-Krankenhaus habe ich meine Ausbildung gemacht. Deshalb kenne ich beide Welten, Vivantes und die Charité. 

Seit 42 Jahren bin ich in der Krankenpflege tätig und habe mich dann relativ schnell in die Akut- und Notfallmedizin gestürzt. Das würde ich auch heute wieder so machen. Das ist wirklich ein schöner Beruf, der einem ganz viel bietet, man hat ein super abwechslungsreiches Aufgabenfeld. Wir haben ständig neue Situationen in der Notfallaufnahme und müssen uns immer wieder auf neue Dinge einstellen. Corona ist da nur ein Beispiel.

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Wir haben solche Entwicklungen immer sehr deutlich gespürt, ob Ebola, SARS oder Fukushima, wir mussten immer neue Konzepte erstellen und uns überlegen, wie wir am besten mit solchen Situationen umgehen. Das ist so unglaublich spannend, wenn es immer vollkommen neue Herausforderungen gibt, mit denen man sich arrangieren muss. Das ist vielleicht auch meine Spezialität als Leitung, ich gestalte gerne. 

Was gestalten Sie denn genau?
Ich habe mich immer dafür eingesetzt, dass es für einen speziellen Aufgabenbereich immer auch eine spezielle Ausbildung gibt. Für die Fachweiterbildung Notfallpflege gibt es inzwischen einen eigenen Bachelorstudiengang. Am Curriculum der Fachweiterbildung habe ich mitgewirkt, weil es mir wichtig war, dass Fachpflegekräfte eine Qualifikation erreichen, die genau auf das Aufgabenfeld der Notfallpflege zugeschnitten ist. Die Gesundheitsakademie der Charité hat dann ein eigenes Curriculum aufgestellt und auf die Empfehlung der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG) gehofft. 

Pflegerin Birgit Liehr.
Pflegerin Birgit Liehr.

© privat

Die bundesstaatliche Anerkennung haben wir bekommen. Damit war die Charité die zweite Einrichtung, nach Bremen, die diese Fachweiterbildung angeboten hat. Von den Inhalten her ist der Bachelor nicht wirklich anders, nur ein bisschen mehr wissenschaftlich ausgerichtet.

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Woran haben Sie noch mitgewirkt?
Der Campus Benjamin Franklin der Charité setzt seit 2008 die Manchester-Triage (MTS) ein, um die Patienten-Behandlungsdringlichkeit einzustufen. Wir haben schon immer schauen müssen, welcher Patient kränker ist als ein anderer und wer sofort einen Arzt sehen muss und wer noch ein bisschen länger warten kann. Das MTS hilft uns, diesen Prozess viel strukturierter anzugehen.

Welche Aufgabenbereiche gehören noch zu Ihrer Arbeit?
Als Leitung ist man in erster Linie für das Personal verantwortlich und erstellt Dienstpläne für die Mitarbeiter. Neben viel Organisatorischem wie Bestellungen und Materialbeschaffung bin ich aber vor allem auch für die Personalentwicklung zuständig. Das heißt, ich überlege mir, wie kann ich die Kollegen stützen und fördern und zur Teambildung beitragen. Das ist mir manchmal auch ein bisschen schwer gefallen, ständig neue Motivationsschübe zu verabreichen und Einarbeitungskonzepte zu erstellen. 

Maßgeblich war bei meiner Arbeit aber immer die Neustrukturierung der Behandlungsprozesse, also zu schauen, dass es nicht nur Trampelpfade gibt, sondern wir uns immer neu ausrichten. Unser Ziel war es, dass, sobald ein Patient die Notaufnahme betritt, er – hoffentlich – immer auf eine gut ausgebildete Pflegekraft trifft, die mit Assessment-Tools und -Scores die Symptome einordnen kann, um den Patienten sofort auf die richtige Behandlungsschiene zu bekommen. 

Dazu gehört auch immer, zu entscheiden, ob der Patient akut im Krankenhaus behandelt werden muss, oder ob die Versorgung durch die integrierte KV-Notdienstpraxis erfolgen kann. Hier, am Campus Benjamin Franklin, haben wir auch sehr viele alte Menschen, die akut behandelt werden müssen. 

Deswegen ist es da auch wichtig, sich Gedanken zu machen, wie man im Notfall am besten vorgeht. Ich würde sagen, die alten Patienten sind sogar sowas wie eine Leidenschaft von mir. Es macht natürlich einen Unterschied, wenn ein 18-Jähriger oder ein 80-Jähriger Mensch mit einer Lungenentzündung zu uns kommt. Es ist spannend, dafür Konzepte zu entwickeln, insbesondere, weil immer mehr demente Menschen zu uns kommen. Die brauchen natürlich ein ganz anderes Assessment als junge, kognitiv fitte Patienten.

Was schätzen Sie an Ihrem Beruf?
Die Notfallpflege ist ein besonders toller Beruf, weil er so abwechslungsreich ist. Was wir aber brauchen, ist noch mehr Selbstständigkeit. Durch die Akademisierung der Pflege erlangt unser Beruf neue Befähigungen, die aber nur durch eine entsprechende Gesetzgebung zur Anwendung kommen können. Wir brauchen größere Autarkie in der Pflege.

Was fasziniert Sie an Ihrem Beruf?
Wenn man erstmal drin ist, ist es schwer, sich für andere Dinge zu begeistern. Man muss es lieben. Mein Schlagwort ist immer: Wer das Chaos nicht liebt und nicht damit umgehen kann, ist hier fehl am Platz. Alles ist ständig neu. Es gibt hier keine Routinen, jeder Tag ist anders. 

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Es ist abwechslungsreich und spannend, aber der Beruf fordert die Mitarbeiter auch sehr. Ich bin zwar unter anderem für den Dienstplan verantwortlich, kann die genaue Belastung aber nie vorhersehen, wann, zum Beispiel, wie viele Patienten kommen und wie viele ganz akut behandelt werden müssen. Da kommen unsere Mitarbeiter oft an ihre Grenzen. Wie gesagt: Man muss es lieben. Wenn man es mag, ist das etwas, was einen durch den Tag trägt.

Und jetzt haben Sie sich dazu entschieden, in den Ruhestand zu gehen.
Ja, irgendwann erreicht man ein Alter, in dem man darüber nachdenkt, ob man die Schwerpunkte anders setzt. Ich habe mich deswegen erstmal für Altersteilzeit im Blockmodell entschieden. Das heißt, noch 15 Monate geht es mehr oder weniger ehrenamtlich weiter, bis zu meinem 63. Lebensjahr, und danach gehe ich ganz regulär in Rente. Es war auf keinen Fall eine Entscheidung gegen das Krankenhaus. 

Das Krankenhaus Benjamin Franklin in Berlin.
Das Krankenhaus Benjamin Franklin in Berlin.

© imago/Schöning

Es war eher so, dass sich mein ganzer Tagesablauf in den vielen Jahren immer an den Herausforderungen der Klinik orientiert hat und ich kann mir einfach vorstellen, noch etwas anderes zu machen. In der Altersteilzeit werde ich sicherlich an den einen oder anderen Projekten mitwirken, viel läuft auch aktuell schon von der Klinik aus. Das Zukunftsorientierte gefällt mir daran.

Wie blicken Sie auf den Ruhestand?
Ich freue mich auf die vielen Gestaltungsmöglichkeiten, auf mein freieres Leben. Aber natürlich ist da sehr viel Wehmut dabei. Das ist schon sehr heftig, gerade, wenn jetzt in den letzten Tagen alle Kollegen ankommen und sagen, dass sie mich vermissen werden. Das ist nicht einfach für mich. Dennoch war es eine aktive Entscheidung, die ich getroffen habe und die nicht aus heiterem Himmel kam. Ich freue mich auf den Ruhestand, trotzdem ist immer ein lachendes und ein weinendes Auge dabei.

Wer tritt dann in Ihre Fußstapfen?
Meine Stellvertreterin Denise Lee wird meine Nachfolgerin sein. Das ist besonders schön, weil ich schon so lange mit ihr zusammenarbeite und weiß, dass sie alles, was ich angestoßen habe, weiter fortführen wird. Das gibt mir ein sehr, sehr gutes Gefühl. Ich gebe meine Stelle in gute Hände.

Wie ist es für Sie, gerade in so einer Pandemie-Ausnahmesituation auszuscheiden?
Natürlich war und ist es eine Ausnahmesituation, gerade auch im Hinblick darauf, die damit verbundenen Sorgen und Ängste meiner Mitarbeiter ernst zu nehmen. Aber alles, was zu Beginn der Pandemie erstmal schwierig erschien, seien es die Schutzkleidung oder die Maßnahmen zur Isolierung, habe ich jetzt das Gefühl, dass wir die Akutphase erstmal hinter uns gelassen haben und einigermaßen Ruhe eingekehrt ist. Natürlich weiß man nie, was noch an neuen Herausforderungen kommt, aber ich weiß, dass wir damit gut zurecht kommen werden, weil wir gute Strukturen haben. 

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Wie ist es für Sie, zu sehen, dass sich manche Menschen nicht an die Corona-Regeln halten?
Uns allen, dem gesamten medizinischen Personal, macht es große Sorgen, wenn wir sehen, wie sich die Bevölkerung zum Teil verhält. Das ist kein beruhigender Gedanke, wir rechnen mit einer zweiten Welle und stehen dauerhaft in Habachtstellung und schauen, was kommt. Wenn ich ehrlich bin, gucke ich mir das jetzt aber auch gerne von draußen an (lacht). Beratend bin ich gerne noch dabei, aber nicht mehr mitten im Geschehen.

Eine richtige Abschiedsfeier wird es für Sie ja aufgrund der aktuellen Situation wahrscheinlich eher nicht geben?
Das stimmt, leider geht das aktuell nicht. Das macht mich ein bisschen traurig. Wir haben auch keine Möglichkeit, Räume dafür anzumieten, wie wir das normalerweise machen. Wir werden uns deswegen wahrscheinlich alle kurz auf dem Gelände zusammenstellen und uns voneinander verabschieden – unter freiem Himmel und unter Einhaltung der Abstandsregeln. Das ist zwar traurig, aber das kann man eben nicht ändern, wir wollen uns natürlich an die Regeln halten.

Worauf sind Sie stolz?
Wenn ich zurückblicke, sind da sehr viele Dinge, die mir viel Freude bereitet haben und da meinen Anteil dran zu haben, ist toll. 

Das klingt sehr erfüllend.
Ja, das ist es, erfüllend, keine Frage. Aber manchmal auch etwas überfüllt (lacht).

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